Gloggnitz

Stadt in den Bergen, April 2023

Gloggnitz ist eine Stadt im Bezirk Neunkirchen im südlichen Niederösterreich. Die Gemeinde liegt in der Gloggnitzer Bucht im südwestlichen Zipfel des Wiener Beckens. Wegen der Lage am Fuße des Semmerings und da umgeben von einem Kranz dunkelgrüner Berge trägt Gloggnitz den Beinamen Gloggnitz, Stadt in den Bergen.

Als Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem Bezirksarmenhaus wurde 1904 ein Steg errichtet, welcher Karlsteg genannt wurde. Der Steg wurde 1927 durch eine Betonbrücke des Architekten Anton Potyka ersetzt, welche vom Staat (Bund) errichtet wurde und anfangs als Kanzlerbrücke bezeichnet wurde. Nach der Befreiung Österreichs wurde die Brücke 1945 nach Karl Renner benannt, der in der NS-Zeit in der Renner-Villa Gloggnitz unter Hausarrest stand.

 Gloggnitz, April 2023

Gloggnitz liegt im so genannten Industrieviertel, an der Einmündung des Weissenbaches in die Schwarza im oberen Schwarzatal. Die Entfernung von Wien beträgt über die Autobahn 75 km.

 Gloggnitz, April 2023

Die Dr.-Karl-Renner-Brücke überbrückt den Fluss Schwarza in der Stadtgemeinde Gloggnitz im Bezirk Neunkirchen in Niederösterreich. Die Stahlbetonbrücke mit gebürsteter Oberfläche hat bemerkenswerte Beleuchtungsmaste aus Beton und Eisenbändern.

 Gloggnitz, April 2023

Weinbergstiege zur Katholischen Kirche Gloggnitz (Christkönig)

 Gloggnitz, April 2023

Christkönigskirche:
Moderner Bau von Prof. Dr. Clemens Holzmeister; Grundsteinweihe 13.9.1933 Konsekration am 1. 4. 1962

 Gloggnitz, April 2023

Die Christkönigskirche liegt auf einer Anhöhe im Wochensländerpark im Zentrum von Gloggnitz. Das Kirchenschiff ist als Betonbasilika ausgeführt und macht einen wuchtig monumentalen Eindruck. Über dem Hochaltar ist ein Mosaik Thronender Christkönig von Richard Kurt Fischer.

 Gloggnitz, April 2023

Gloggnitz wurde um 1094 als Stützpunkt vom Kloster Formbach urkundlich genannt. Seit dem 12. Jahrhundert ist Gloggnitz eine Pfarre. Bis 1962 war die ehemalige Klosterkirche des Benediktinerklosters Gloggnitz (Schloss Gloggnitz) die Pfarrkirche. 1962 wurde neue Kirche fertiggestellt und zur Pfarrkirche erhoben.

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

Über Vermittlung von Kardinal Friedrich Gustav Piffl (1864–1932), welcher auf Burg Kranichberg Sommerfrische hielt, beauftragte der Pfarrer Bucher den Architekten Clemens Holzmeister (1927) mit der Planung einer neuen Kirche. Von Holzmeisters Planung einer gestaffelten Hallenkirche mit einem hochaufragenden Chorturm konnte von 1933 bis 1934 nur der Turm errichtet werden und wurde 1934 als Kardinal-Friedrich-Gustav-Piffl-Gedächtniskirche geweiht. Für die Fertigstellung fehlten die finanziellen Mittel. Mit einer Umplanung des Architekten Clemens Holzmeister wurde das Bauvorhaben redimensioniert und konnte von 1960 bis 1962 vollendet werden. Dabei wurde der Altarraum nach Osten verlegt und der ehemalige Altarraum im Erdgeschoß des Turmes wurde zur Eingangshalle.

 Gloggnitz, April 2023

Die Orgel baute Josef Mertin 1971.

 Gloggnitz, April 2023

Am 1. Mai 2023 wurde die Pfarre Gloggnitz um das Gebiet der ehemaligen Pfarren Klamm am Semmering, Kranichberg, Prigglitz, Raach am Hochgebirge und Schottwien erweitert. Die Pfarrkirche Gloggnitz ist Pfarrkirche und Kirche der Teilgemeinde Gloggnitz.

 Gloggnitz, April 2023

Der Tabernakel wurde von Karl Hagenauer nach Entwürfen von Clemens Holzmeister angefertigt.

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

Das Schloss Gloggnitz, ein ehemaliges Benediktinerkloster, steht in Gloggnitz im südlichen Niederösterreich.

 Gloggnitz, April 2023

St. Othmar Kapelle:
Erbaut um 1300, davon heute nichts mehr vorhanden (Langhaus 1950 abgerissen) urkundliche Erstnennung: 17. Juli 1313 Erbauung des spätgotischen Chores um 1460 (heutiger Bestand)

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

 Gloggnitz, April 2023

Vor 900 Jahren rückte Gloggnitz ins Licht der Geschichte. Zum ersten Mal wird sowohl der Fluss als auch der Ort in einer Formbacher Urkunde vom 17. Dezember 1094 (Original ist heute nicht mehr vorhanden) erwähnt. Bei der Bestiftung des Benediktinerklosters Formbach (am Inn in Bayern), anläßlich der Weihe des ersten Abtes, Beringar, schenkte Graf Eckbert I. von Formbach neben mehreren Besitzungen in der Nähe von Formbach (auch Vornbach) auch solche in östlichen Landen.

 Gloggnitz, April 2023

Graf Eckbert I., ein "Graf von nicht geringer Macht und Tapferkeit", kam durch Heirat mit Mathilde (um 1055), der Erbtochter des Markgrafen der karantansichen Mark, Gottfried, des Siegers über die Ungarn (1042) vor Pitten, in den Besitz eines Großteils des Landstrichs von der Piesting bis über den Semmering und von Hartberg über Pitten bis Wr. Neustadt. Der Hauptort dieser Grafschaft "Pütten" war Neunkirchen, der mit besonderen Rechten ausgestattet war. Geistiger, kultureller und wirtschaftlicher Mittelpunkt war das Kloster Gloggnitz, das von den Mönchen des Haus- und Mutterklosters der Grafen errichtet worden war und durch Tausch, Grundkauf und fromme Stiftungen zu einer Propstherrschaft heranwuchs. Freilich war der Abt im Mutterkloster Formbach der eigentliche Geschäftsträger, der alles Tun und Lassen bestimmte, jedoch tanzten die "Herren auf dem Berg zu Gloggnitz" manchmal aus der Reihe, pochend auf ihre örtliche und wirtschaftliche Macht.

 Gloggnitz, April 2023

Durch 700 Jahre, bis zur Aufhebung des Klosters (mit dem Kloster Formbach) im Jahre 1803 ist seine Geschichte auch die Geschichte des Ortes Gloggnitz. Das Kloster, seither Schloss genannt, wurde als würdigstes Bauwerk zum Wahrzeichen des Ortes neben der noch älteren St. Othmarkapelle (Marktkapelle), die aus 1001 (oder 1011) stammen soll. Freilich ist der Ort Gloggnitz in dieser langen Zeit nicht viel größer geworden. 1345 zählte er 21 Häuser mit 110 Einwohnern, nach der Aufhebung des Klosters 69 Häuser mit ca. 570 Einwohnern. Doch die Klosterherrschaft gewann immer mehr an Bedeutung. Die Fröner bearbeiteten ihr Lehen und roboteten für die Herrschaft. Der herrschaftliche Betrieb beschränkte sich keineswegs auf Land-, Forst- und Weinwirtschaft (sie war die Haupteinnahmsquelle) und auch Schafzucht, es gab auch herrschaftliche Gewerbebetriebe, Tavernen, Mühlen, eine Schmiede, eine Säge, ein Brech- ("Walk") und ein Badhaus.

 Gloggnitz, April 2023

Schloß Gloggnitz:
Gründung um das Jahr 1094, gotischer Bau, 1692 barockisiert, 1730 Sakristei und 1789 gegliederter Turm mit Zwiebelturm dazugebaut.

 Gloggnitz, April 2023

1094 erfolgte die Erhebung des Benediktinerklosters Vornbach zur Abtei. Im Osten ermöglichte die Schenkung von Gebieten im Raum Neunkirchen-Pitten-Gloggnitz an die Benediktiner die Gründung eines Vornbacher Filialklosters in Gloggnitz.

 Gloggnitz, April 2023

Dieser 1803 profanierte Bau, heute als Schloss bezeichnet, ist ein dreigeschoßiger Barockbau, die Nordseite mit burgenmäßigem Charakter. Durch zwei Torhäuser aus der Spätgotik, von denen besonders das zweite mit seinem zweijochigen Kreuzrippengewölbe interessant ist, gelangt man in den polygonen Hof (einst Leichenhof), in dessen Mitte die Kirche steht. An das zweite Torhaus schließt sich die 1,5 Meter dicke und 11,5 Meter hohe mittelalterliche (15., 16. Jahrhundert) Ringmauer mit Rechteckschießscharten an. Die frühgotische (14. Jahrhundert) zweijochige, dem heiligen Michael geweihte Abtkapelle hat zwei Zugänge. In ihrem unteren Teil befand sich einst ein Beinhaus (Karner). Im kurzen Westflügel ist der Stiegenaufgang zu den Wohnräumen, wahrscheinlich früher Gästezimmer und zur Empore der Abtkapelle.

 Gloggnitz, April 2023

“RENAUER SCHLÜSSEL"
Die imposante Kunstschlosserarbeit in der Form eines Schlüssels - Gesamthöhe ca. 2,50 m - aus dem Jahr 1893 stammend, stellt das Zunftzeichen der ehem. Gloggnitzer Paradefirma Felix Renauer, Schlosserei-Maschinen u. Motorenfabrik, gegründet 1879, stillgelegt 1974, dar. Im Jahre 1994 wurde das im Besitz des "Museums in der Schlosskirche" befindliche Objekt, anlässlich der 900-Jahr Feierlichkeiten von Gloggnitz, im Schlosshof, mit Genehmigung der Stadtgemeinde Gloggnitz aufgestellt.

 Gloggnitz, April 2023

Mammutbäume, Riesen-Sequoien, Sequoiadendron giganteum (Lindl.) Buchh. (Familie Sumpfzypressengewächse)
Mammutbäume sind Relikte aus dem Erdmittelalter und der subtropisch warmfeuchten Tertiärzeit. Fossil sind sie aus Braunkohlelagerstätten, zu denen sie im Laufe von Jahrmillionen verwandelt wurden, bekannt „lebende Fossilien". Vor ca. 100 Millionen Jahren fast weltweit verbreitet, konnten sie während der Eiszeit nur in klimatisch begünstigten Relikt-Arealen, wie der Sierra Nevada Kaliforniens, überleben. In „National Parks" leben über 80 m hohe Bäume mit Stammdurchmesser von mehr als 9 m und einem Alter von über 3000 Jahren.

In Europa wurden sie 1853 eingeführt. Der größte österreichische Mammutbaum wächst im Kurpark von Bad Gleichenberg (Stmk.). Er wurde 1872 gepflanzt und weist eine Höhe 52 m (?) bei einem Brustumfang von 7,20 m auf. Der Baum besitzt sogar einen Blitzableiter. Sein nächster Verwandter ist der Urwelt-Mammutbaum (Metasequoia) Chinas, der neben dem Eingang zum Naturpark steht!

 Gloggnitz, April 2023

Inmitten des Hofes steht die barocke Kloster-(Schloss-)Kirche, die Maria Schnee (Beate Mariae Virgini ad Nives) und dem heiligen Oswald geweiht ist, mit gotischem Kern. In einer Urkunde von 1485 heißt sie auch Propsteikirche St. Godehard (St. Gotthard) in Gloggnitz. Der älteste Teil ist die Frauenkapelle (wahrscheinlich die ursprüngliche Zell, 11. Jahrhundert) mit einem Spitzbogengurt von 1260, die früher selbständig war und erst ca. 1760 mit der Kirche verbunden wurde. Sie ist ebenfalls gotisch. Die größte Umgestaltung erfuhr die Kirche unter den Pröpsten Perfaller und Wenckh. 1692 wurde die Kirche barockisiert, aus der Zeit stammt auch der angebaute 36 Meter hohe Turm mit Zwiebeldach, der ein Jahr später die erste große Glocke (635 kg), 1724 die zweite (1330 kg) aufzunehmen hatte. Die Sakristei und das Oratorium ließ 1730 Propst Langpartner dazubauen.

 Gloggnitz, April 2023

Zwischen der noch erhaltenen hohen Wehrmauer des Klosters und dem ehemaligen Refektorium befindet sich die St. Michaels-Kapelle, ein frühgotischer Bau, seit 1322 nachgewiesen, der in der Barockzeit nur wenig verändert wurde. Im Untergeschoss befand sich der Karner. Ein Außenfresko des hl. Christophorus ist, wenn auch schwer beschädigt, noch vorhanden.

 Gloggnitz, April 2023

Von 1977 an wurde die Schlosskirche, die Michaelskapelle und auch der gesamte Schlosskomplex mit Unterstützung des ehemaligen Bautenministeriums, des Wissenschaftsministeriums, des Bundeskanzleramtes, des Landes Niederösterreich und vieler privater Spender renoviert bzw. revitalisiert. Auch von der Gemeinde wurden beträchtliche finanzielle Mittel aufgebracht und von Mitarbeitern des städtischen Bauhofes tausende Arbeiststunden geleistet. 1988 wurde die Michaelskapelle wieder geweiht.

 Gloggnitz, April 2023

Den barocken Johannes-Nepomuk-Bildstock auf dem Johannesfelsen unterhalb des Schlosses ließ Propst Franz Langpartner bei der Barockisierung des Klosters errichten. Der seit längerem arg beschädigte Bildstock wurde 1976 restauriert, die künstlerischen Arbeiten führte der Bildhauer Kessler aus.

 Gloggnitz, April 2023

Gloggnitz hat an Bedeutung gewonnen. Dazu kam noch der Bau der Eisenbahn Wien - Gloggnitz im Jahre 1842 und die Fortsetzung 1854 über den Semmering, Gloggnitz wurde zu einer wichtigen Bahnstation (Schnellzugstation). Sie brachte viele Fremde (Sommergäste, Touristen) in den Ort. Zwei Bundespräsidenten waren Ehrenbürger der Stadt: der Wahlgloggnitzer Dr. Karl Renner und der im nahen Aue geborene Dr. Michael Hainisch.

Lange Zeit war nur von dem Dorfe Gloggnitz die Rede, aber 1548 wird ein "Bürger" von Gloggnitz mit Namen genannt und 1556 ist zum ersten Male der "Marckht" Gloggnitz verzeichnet (1622 erstmals nachgewiesen), der laut Urkunde von 1819 das Privileg zur Abhaltung von zwei Jahrmärkten erhalten hat. In Anbetracht seines wirtschaftlichen Aufschwungs wurde der Markt am 20. Oktober 1926 zur Stadt erhoben.

 Gloggnitz, April 2023

KARL RENNER - Vom Bauernsohn zum Bundespräsidenten
Die Lebenszeit Karl Renners - 1870 bis 1950 - umfasste eine Zeit der welthistorischen Um-, Zusammen- und Aufbrüche, gerade auch in Österreich. Menschen, die jene Zeiten erlebten, waren konfrontiert mit dem Zerfall der Monarchie, dem Ersten Weltkrieg, der Gründung und dem Untergang der Ersten Republik, mit Diktatur und Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg und schließlich mit der schwierigen Gründung der Zweiten Republik.

Karl Renner wuchs in ärmlichen Verhältnissen in dem fast ausschließlich von Deutschsprachigen besiedelten Dorf Untertannowitz in Südmähren auf, somit in einem wichtigen Brennpunkt der Nationalitätenkonflikte der Habsburgermonarchie. All das sollte ihn sein Leben lang prägen: seine sozial benachteiligte Herkunft, sein Deutschsein in einem Vielvölkerstaat und die Tatsache, Bürger eines großen Reiches gewesen zu sein. Ergänzt durch seine Verbundenheit zu marxistischen Ideen und zur internationalistischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sind so die grundlegenden Orientierungspunkte seines politischen Denkens und Wirkens abgesteckt. Hervorzuheben ist ebenso die innige Verbundenheit Karl Renners zu seiner Familie. Diese eröffnete ihm eine beschaulich-stabile familiäre Privatheit, die ihm Rückzugs- und Regenerationsmöglichkeiten bot, um in schwersten Zeiten große Verantwortung übernehmen zu können.

Kaum eine andere österreichische politische Führungspersönlichkeit ist so eng mit der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben wie Karl Renner; verwoben mit der Anerkennung ihrer großen historischen Leistungen wie mit der Verantwortung für ihre historischen Fehlleistungen, Hochverehrt und scharf kritisiert polarisiert er bis heute. Zunächst fasziniert er als visionärer Theoretiker mit langfristigen Zielorientierungen. Auch beeindruckt er als volksverbundener populärer Politiker, der Menschen gewinnen und verbinden konnte. Ebenso galt er als Tagesrealpolitiker des Ausgleichs und des Kompromisses, jedoch mit der Bereitschaft, für seinen Pragmatismus politische und persönliche Grenzen des Tolerierbaren sehr weit zu ziehen. Eine Beschäftigung mit dieser zentralen österreichischen politischen Figur wird weiterhin, jenseits einer Heils- oder Verdammungsgeschichte, notwendig sein, will man sich nicht eines zentralen Schlüssels zum Verständnis der Geschichte der Republik Österreich berauben. Alles in allem bleibt er eine epocheprägende politische Ausnahmerscheinung und eine typisch österreichische Gestalt mit ihren Ambivalenzen.

Dr. Karl Renner 1870-1950, Gründer der 1. u. 2. Republik

 Gloggnitz, April 2023

Renner geht am 3.4. zur Kommandantur in Gloggnitz
„Ostersonntag, den 1. April 1945, zogen die russischen Truppen in den Wohnsitz des Kanzlers, in Gloggnitz, ein....Nachdem ich zwei Tage und Nächte an meiner Person und in meinem Hause das gleiche wie jeder andere Bewohner des Ortes erfahren hatte, beschloss ich am Morgen des Osterdienstags, zum Schutze der Bevölkerung und zur Aufklärung ihrer ausnahmslos friedlichen Stimmung irgendeine erreichbare Befehlsstelle im Orte aufzusuchen. Die Straßen waren menschenleer, vereinzelt standen militärische Posten, die ich ansprach und die mich nicht verstanden. Ich suchte die Straßen nach einer Kommandostelle ab, stieß endlich auf zwei Männer, von denen der eine, der ein wenig Russisch sprach, mich zum Platzkommando führte, das unauffällig in einer Seitenstraße untergebracht war. Es gelang ihm, sich mit dem Torposten zu verständigen, dass sie mich anmeldeten und ich dem Kommandanten und seinem Stabe meine Vorschläge zum Schutze der Bevölkerung vortragen konnte. Der Kommandant erklärte, in der Sache allein nicht verfügen zu können, gab mir und den zwei mir unbekannten Zufallsbegleitern eine Wache von vier Soldaten mit, und so marschierte ich mit dieser Bedeckung zum nächsten Truppenkommando in das 2 km weit entfernte Köttlach."

Zu Fuß mit Bewachung von Gloggnitz nach Köttlach
„Im Stabe dieses Kommandos fanden sich zufälligerweise Offiziere, die meinen Namen kannten. Das hatte zur Folge, dass ich geraume Zeit zu warten hatte, eine Zeit, die, wie mir später klar wurde, wohl dazu benützt wurde, mit dem Oberkommando dieses Kampfabschnittes telephonisch in Verbindung zu treten. Man eröffnete mir endlich, dass Befehle an das Ortskommando Gloggnitz zur Abstellung von Missbrauch hinausgehen würden, dass ich jedoch mit meinen Zufallsbegleitern per Auto einer höheren Stelle vorgeführt werden müsse. Ich war in der größten Sorge um meine Familie, die nicht ahnen konnte, was mir passiert wäre - ich hatte ohne Überrock, mit dem gewohnten Spazierstock in der Hand, früh das Haus verlassen - und Mittag war überschritten. Nur widerstrebend bestieg ich das mit Plachen eingedeckte Lastauto, das mich über ein Zwischenkommando auf unbekannten Wegen nach einem unbekannten Bergort brachte."

Vom 3. bis 5.4. im Hauptquartier in Hochwolkersdorf
„Am zweitnächsten Tag... wurde ich abgeholt, in einen geräumigen Bauernhof... geführt, wo eine überraschende Anzahl hoher Offiziere mich begrüßte. Nur einige Namen der Anwesenden konnte ich später feststellen, unter ihnen den des Generalobersten Scheltow und des Obersten Piterski. Der Generaloberst richtete nach der Begrüßung durch einen höheren General, der den Vorsitz führte, seine Rede an mich und fragte, ob ich mich imstande fühle, zugleich meinem eigenen Lande und der Roten Armee einen Dienst zu erweisen. Diese wolle nichts von Österreich und stehe auf dem Boden der Krimdeklaration, d.i. der Unabhängigkeit Österreichs. Sei ich bereit, zur Abkürzung des verlorenen Krieges beizutragen und so unter einem die Aufgabe der Roten Armee zu erleichtern und die Leiden Österreichs zu kürzen? Ich antwortete: Ich habe lange überlegt und mich entschlossen: Ich traue der Roten Armee, dass sie von Österreich nichts wolle, als was die Besiegung der Hitlerarmee ihr auferlege und was das Kriegsrecht ihr zubillige. Ich traue mir selbst zu, das Werk der Befreiung Österreichs vom Faschismus in Angriff zu nehmen. In diesem doppelten Vertrauen will ich die gegebenen Möglichkeiten erörtern."
Karl Renner, Denkschrift zur Unabhängigkeitserklärung

 Gloggnitz, April 2023

Vom 5.-19. 4. Vorbereitung in Gloggnitz und Eichbüchl
„Nach einem gemeinsamen Abendessen brachte mich ein Auto der Roten Armee in Begleitung des Obersten Piterski nach Gloggnitz zurück. Dort machte ich mich an die Arbeit. Glücklicherweise traf um jene Zeit meine Privatsekretärin dort ein, und so konnte ich die Entwürfe rasch verfassen...Oberst Piterskis dritter Besuch erfolgte mit zwei Personen- und einem Gepäckauto. Das Kommando der Dritten ukrainischen Front (Marschall Tolbuchin) führte mich, meine Frau und Tochter mit wenigen Koffern fort an einen mir vorher unbekannten Ort. Es war das abseits von Wr. Neustadt, am Fuße des Rosaliengebirges gelegene, verlassene und halbleere Schlösschen Eichbüchl, wo wir uns schlecht und recht mit einem kleinen Wachedetachement unter dem Kommando von Hauptmann Garin etablierten. Dort hörten wir, dass Wiener Neustadt eben gefallen und hart mitgenommen sei, dass aber der Kampf um die Hohe Wand, um das Wechsel- und Raxgebiet andauere, und das Dröhnen der Geschütze war Tag und Nacht hörbar. In der Abgeschiedenheit dieses kleinen Ortes, dessen bäuerliche Bevölkerung mich sofort erkannt hatte und mir und den Meinigen mit liebevoller Verehrung begegnete, verbrachte ich, unterstützt von meiner Sekretärin und ihrer Schreibmaschine, zwölf Tage mit fleißiger Arbeit an den Aufbauplänen..."
Karl Renner, Denkschrift zur Unabhängigkeitserklärung

 Gloggnitz, April 2023

Am 20. 4. mit Startschewski von Gloggnitz nach Wien
„Wir fuhren in das kleine Gebirgsstädtchen Gloggnitz, wo nach der letzten Mitteilung Renner all diese Jahre leben sollte. Leo Hölzl zeigte uns den Weg. Und tatsächlich, 75 km entfernt von Wien, fanden wir Karl Renner in diesem kleinen Ort, gelegen im Wald, in den Bergen. In einem kleinen Häuschen erblickten wir Renner selbst. Uns entgegen kam ein hoher älterer Mann - 65 bis 70 Jahre alt mit grauem Kopf, mit sorgfältigem, weißem Bärtchen. Zuerst war Renner erstaunt, und er schien sogar beunruhigt über unsere Ankunft. Aber als wir ihm die Einladung... des Marschalls Tolbuchin zu einer Audienz ausrichteten, war er gerne bereit, mit uns zu fahren. Ich glaube, er erriet den Grund dieser Einladung. Auf dem Weg nach Wien sprach er, dass nur er und niemand anderer an die Spitze der österreichischen Regierung treten kann, und fragte mich, ob man ihn diesbezüglich ruft. Ich erwiderte aufrichtig, dass mir nichts bekannt ist. Unterwegs erzählte ich Dr. Renner, dass ich einige seiner Werke gelesen habe, insbesondere das Buch „Über die kulturelle Nationalautonomie"...Ich erinnere mich: Renner war überrascht, dass ein Frontoffizier, und dazu ein russischer, seine Werke kennen konnte. Nach einer Stunde und 45 Minuten fuhren wir in Wien ein, und vor Renner flogen...brennende Häuser, gesprengte Brücken... Renner fing zu weinen an."
Erinnerungsbericht von Oberst a.D. Jakow Startschewski

Erste Dreiparteien-Verhandlungen am 22. 4. in Wien
„Ich traf in Wien am 21. April 1945 ein und wurde in Hietzing, Lainzer Straße 28 oder Wenzgasse 2 installiert. Die Auswahl des Hauses erfolgte mit Rücksicht auf das wahrscheinliche Bedürfnis, daselbst größere Besprechungen abzuhalten. Oberst Piterski... übernahm es auch, für den nächsten Tag die führenden Persönlichkeiten der demokratischen Parteien in die Wenzgasse zu bestellen. Als erster erschien Leopold Kunschak... seine demokratische Gesinnung ist immer unbestritten gewesen... Die erwähnte Konferenz der politischen Vertrauensmänner in der Wenzgasse konnte nicht anders enden als mit dem einmütigen Beschluss aller nichtfaschistischen Parteien, das, was in vielen Gemeinden schon geschehen war, im ganzen Staate zu verwirklichen, ganz Österreich gegen den Faschismus aufzurufen, die Wiedergeburt der demokratischen Republik zu verkünden und die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit Österreichs wieder herzustellen. Es bedurfte kaum eines Wortes, um die einhellige Entschlossenheit aller festzustellen... Die Besprechung war sich sofort einig, „durch die Parteien sofort eine Provisorische Staatsregierung einzusetzen, die österreichische Republik wieder als selbstständigen Staat aufzurichten und ihm alle seine Behörden und Ämter neu zu schaffen."
Renner, Denkschrift zur Unabhängigkeitserklärung

 Gloggnitz, April 2023

Die Renner-Villa
Die Villa wurde 1894 erbaut. Im Jahr 1910 erwarb Karl Renners Ehefrau Luise diese um 14.000 Kronen von Frau Katharina Stobl. Karl Renner suchte sich in „seinem" Neunkirchner Wahlkreis einen Wohnsitz, um von hier aus 1911 seine Wiederwahl in das Abgeordnetenhaus des Reichrates zu bestreiten. In diesem Wahlkreis wurde er bereits 1907 mit der Einführung des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts gewählt. Der Ausbau der Mansarde erfolgte 1929/30. Die „Herzkammer" des Museums ist die original erhaltene Bauernstube aus Zirbenholz. Sie wurde von Karl Renner unmittelbar nach dem Villenankauf in Auftrag gegeben. Einen Blickfang bildet das kunstvolle Glasfenster. In der Bauernstube spielte Renner oft mit Freunden Bauernschnapsen und Schach. Ebenso fanden hier regelmäßig Hausmusikabende statt. Die Stehlampe aus Eisen mit Traubenmotiven war ein Geschenk zu Renners 80. Geburtstag.

 Gloggnitz, April 2023

Karl Renner wurde am 14. Dezember 1870 als 18. Kind von Maria und Matthäus Renner in Unter-Tannowitz, dem heutigen Dolní Dunajovice, geboren. Aus der Taufmatrik geht hervor, dass Karl einen Zwillingsbruder namens Anton hatte, der jedoch schon bald gestorben war. Renners Eltern waren verarmte Weinbauern. Die frühkindlichen Erfahrungen von Armut und Mangel prägten Renners Leben und Weltsicht.
Trotz ärmlicher Verhältnisse absolvierte Renner die acht Stufen der Volksschule in Unter-Tannowitz in nur fünf Jahren. Anschließend besuchte er das Gymnasium in Nikolsburg, dem heutigen Mikulov. Anfangs ging er die zwei Stunden Schulweg täglich hin und zurück. Er maturierte im Schuljahr 1888/89. Als Klassenprimus erhielt er schließlich „Freitische" und ein Stipendium. Es wurde ihm so auf Anraten der Lehrer und Förderer der Weg zum Studium der Rechtswissenschaften in Wien ermöglicht, das er 1896 erfolgreich abschloss.

Karl Renner lernte seine aus Güssing stammende Frau Luise (geb. Stoisits) 1890 als Student in Wien kennen. Sie lebten zunächst im „Konkubinat", bis sie im Jahr 1897 heirateten. Karl verdingte sich als Hauslehrer und Luise als Stubenmädchen. Luise Renner war 1947 Mitbegründerin der „Volkshilfe Österreich". 1945 meinte Renner über seine lange Beziehung zu ihr: „Und auch das ist ein Stückerl Sozialismus, so wie ich ihn verstehe." Die Tochter Leopoldine wurde 1891 geboren. Sie erlernte mehrere Sprachen und genoss eine höhere Bildung. 1913 heiratete Leopoldine den um dreizehn Jahre älteren Zivilingenieur und Leiter der Hammerbrotwerke Hans Deutsch, der jüdischen Glaubens war. Dieser Ehe entsprangen die Kinder Hans (1913), Karl (1917) und Franziska (1920). Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich floh das Ehepaar Deutsch-Renner mit ihren Kindern vor dem nationalsozialistischen Rassenwahn zunächst nach England. Leopoldine kehrte 1939 zu ihren Eltern nach Österreich zurück, Hans erst 1947. In der Villa lebten oft drei Generationen der Familie Renner zusammen. Sie wurde 1978 nach dem Tod der Tochter (1977) von den Enkelkindern an den von Bruno Kreisky initiierten Verein „Dr.-Karl-Renner-Gedenkstätte" verkauft und ab 1979 als Museum genutzt.

 Gloggnitz, April 2023

Der Sozialdemokrat
Als Student in Wien wandte sich Karl Renner bei der Maifeier 1893 der 1888/89 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu und wurde schließlich ein Vertreter der österreichischen Denkschule des „Austromarxismus". Ihn inspirierten die Ideen Ferndinand Lassalles und ein Leben lang das Gedankengebäude Karl Marx'. In der praktischen Politik bewies er sich mehr als humanistisch-demokratischer Reformer denn als indoktrinärer Theoretiker. Renner wirkte in sozialdemokratischen Studentenzirkeln. Er wandte sich der Arbeiterbildung zu und engagierte sich ab 1903 in der ersten Wiener Arbeiterschule „Zukunft". Im tiefen Glauben an das Recht des Proletariats auf Gesundheit, Freizeit und Erholung verfasste er 1895 die Statuten der „Naturfreunde" und wurde so ihr Mitbegründer. Besonders verbunden fühlte er sich der Genossenschaftsbewegung. Bereits 1911 wurde er mit kurzer Unterbrechung (zwischen 1919 und 1920) bis 1934 zum Obmann des Zentralverbands österreichischer Konsumvereine gewählt. Im Jahr 1922 gründete Karl Renner die Arbeiterbank AG.

Nationalitätenfrage
Karl Renner wurde im Jahr 1895 Bibliothekar der Reichsratsbibliothek. Er schuf sich so eine stabile materielle Basis und konnte sich der Politik und seinem publizistischen Schaffen widmen. Als kaiserlicher Beamter schrieb er oft unter Psyeudonym, um nicht seine Stelle zu gefährden. Renner begann sehr früh, sich mit der nationalen Frage und den nationalistischen Konflikten der Monarchie zu beschäftigen. Eine Nation war für ihn eine Sprach-, Kultur- und Geschichtsgemeinschaft von Personen und kein geschlossenes Siedlungsgebiet als einheitlicher Nationalstaat. Karl Renner definierte deshalb ein Personalitätsprinzip. Die nationale Autonomie sollte in der Verfassung verankert sein und die kulturelle Autonomie vollständig an die Person gebunden werden. Renner ging sogar so weit, dass er ein Bekenntnisprinzip, also eine freie Nationalitätserklärung des Individuums, daran knüpfte. Ein übernationaler Gesamtstaat war sein Ziel. Er strebte nach einer grundlegend reformierten Habsburgermonarchie als „demokratische Schweiz im Großen mit monarchischer Spitze".

Das Arbeitszimmer stammt aus Renners Wohnung in der Taubstummengasse in Wien. Dort wohnten nach Renners Tod weiterhin seine Witwe Louise und Tochter Leopoldine. Nachdem auch Louise Renner gestorben war, zog sich Leopoldine Deutsch-Renner nach Gloggnitz zurück. Das Wiener Arbeitszimmer kam als zentrales Schaustück für eine Gedenkstätte in die Verwaltung des Konsumverbandes in Wien. Seit 1979 wurde es Teil des Renner-Museums. Die schweren Tapeten und Vorhänge wurden der Wiener Wohnung nachempfunden. Die Vase mit den Metallrosen widmeten Renner Arbeiter der Schoeller-Bleckmann in Ternitz. Den Lehnsessel erhielt er vom Bundesmobiliendepot zum 80. Geburtstag.

 Gloggnitz, April 2023

Krieg und Zerfall
Die Sozialdemokratische Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung in Europa hatte sich von Anfang an als internationalistisch verstanden und trat pazifistisch auf. Mit Kriegsbeginn 1914 scheiterte diese Haltung und spaltete sie in Kriegsgegner und Kriegsbefürworter. Für Karl Renner war der Weltkrieg eine Epochenwende und im Moment des Ausbruchs nicht zu verhindern. Der Krieg führe zur „Durchstaatlichung der Wirtschaft" sowie zur „Verwirtschaftung der Staatsgewalt" und sei somit eine Vorbereitung für den Sozialismus. Dies hielt er für die wirtschaftliche Basis eines anzustrebenden friedlichen Weltstaats. Sein 1917 erschienenes Werk „Marxismus, Krieg und Internationale" brachte ihm den Vorwurf des „Kriegssozialismus" ein. Renner versuchte das Vielvölkerreich als übernationalen Staat durch Demokratisierung, Verwaltungsreform und Abschaffung der Kronländer zu retten. Als im Oktober 1918 klar war, dass der Krieg das marode Reich zerstört, wurde er zur strukturierenden und treibenden Kraft der Republiksgründung.

Republiksgründung
Im Chaos des Zerfalls der Monarchie wurde Karl Renner auf Grund seines Rufs, ein strukturierter Denker und Praktiker sowie ein kompromissbereiter Brückenbauer zu sein, am 21. Oktober 1918 zum Staatskanzler. Er zeichnete für den „Entwurf des Beschlusses über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt" vom 30. Oktober und für das „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich" vom 12. November verantwortlich. Er forcierte das allgemeine gleiche Männer- und Frauenwahlrecht und die so genannten „Habsburgergesetze". Schließlich leitete er auch die Delegation bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain-en-Laye. Nach der Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung am 16. Februar 1919 führte Renner bis zum Juli 1920 eine Koalition zwischen Sozialdemokratischer Arbeiterpartei und Christlichsozialer Partei an. Nach dem diese zerbrochen war, schrumpfte schrittweise die Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft zwischen den politischen Lagern.

 Gloggnitz, April 2023

Antisemitismus
Die rücksichtslose Kriegsführung im Ersten Weltkrieg machte in seinem Verlauf 13 Millionen Menschen in Europa zu Flüchtlingen. In Österreich-Ungarn waren es ca. 1,5 Millionen. Im Zuge der Grenzziehungskriege 1918/19 kam es in Polen und in der Ukraine zu Pogromen gegen jüdische Minderheiten. Zu den Kriegs- kamen nun auch Pogromflüchtlinge. Diese flohen als Staatsangehörige der Habsburgermonarchie in die mittellose und hungernde Republik Deutschösterreich. Die rund 30.000 „ostjüdischen" Geflüchteten in Ostösterreich wurden politischer Spielball und agitatorisches Instrument für antisemitische Hetze. Organisationen wie der „Anti-Semitenbund" (1919) wurden gemeinsam von christlichsozialen und deutschnationalen Politikern gegründet. Beide Parteien hatten den Antisemitismus als ideologisches Versatzstück in ihren Parteiprogrammen.

Der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich - Albert Sever - versuchte im September 1919 per Erlass, alle Flüchtlinge ohne „Heimatrecht" des Landes zu verweisen. Die christlichsozialen Forderungen, Jüdinnen und Juden bei Volkszählungen als „eigene Rasse" zu führen und „Konzentrationslager" für jüdische Flüchtlinge zu schaffen, radikalisierten ebenso die Debatte. Bei der ersten Nationalratswahl im Oktober 1920 gelang es den bürgerlichen Parteien, den Antisemitismus zum wahlentscheidenden Thema zu machen. 1921 wurde Jüdinnen und Juden schließlich auf Betreiben der Deutschnationalen die österreichische Staatsbürgerschaft verwehrt, da sie „rassisch" keine „Deutschen" seien. Dieser rigide Antisemitismus blieb als schweres innenpolitisches Erbe zurück und war fruchtbarer Boden für die spätere nationalsozialistische Agitation.

Ende der Demokratie
Karl Renner widmete sich nach dem Ausscheiden aus der Regierung 1920 intensiv der Arbeit im Nationalrat, seiner Vortragstätigkeit und der Genossenschaftsbewegung. In der Sozialdemokratie vertrat er eine moderate Linie der Reform, des Ausgleichs und der Kooperation mit anderen Parteien. Im Schatten der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre wuchs die Gefahr eines Bürgerkrieges. Bis an die Grenzen der Selbstaufgabe gehend, versuchte Renner diese Eskalation mit Kompromissbereitschaft zu durchbrechen. Am 4. März 1933 trat Karl Renner als Erster Präsident des Nationalrats im Zuge einer parlamentarischen Auseinandersetzung zurück. Seine beiden Stellvertreter folgten ihm. Die damit verbundene Geschäftsordnungskrise des Parlaments wurde vom christlichsozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß genutzt, um die junge österreichische Demokratie schrittweise zu beseitigen. Nach den Ereignissen des Bürgerkrieges im Februar 1934 errichtete er ein autoritäres System nach faschistischem Vorbild. Karl Renner wurde am 12. Februar 1934 verhaftet und hundert Tage in Wien in Arrest gehalten.

 Gloggnitz, April 2023

Ende des Staates
Als der junge österreichische Staat am 12. März 1938 im nationalsozialistischen Deutschland unterging, sprach sich Karl Renner in einem Interview für den „Anschluss" aus. Die Vereinigung mit dem großen deutschen Wirtschaftsraum und der deutschen Republik war seit 1918 ein wiederkehrendes politisches Ziel geworden.
Renner selbst betonte stets, ohne Zwang und aus Überzeugung gehandelt zu haben. In einem Artikel in der britischen Zeitschrift „World Review" im Mai 1938 argumentierte Renner, dass sich jetzt nur vollziehe, was in Saint-Germain-en-Laye illegitimer Weise durch die Siegermächte verhindert worden war. Es sei schlimm für ihn, dass dies nun unter den diktatorischen Vorzeichen eines „unfassbaren Rassenregimes" und nicht wie 1918 demokratisch geschehe. Renner meinte: „Staaten bleiben, aber Systeme wechseln". Dieser Logik folgend, würdigte er in einer unveröffentlichten sehr problematischen Broschüre ebenso das von Großbritannien und Frankreich unterzeichnete Münchner Abkommen vom 29. September 1938 als Großtat. Er legitimierte somit die Zerstörung der Tschechoslowakei. Vom Nationalsozialismus und seinen Methoden distanzierte er sich stets eindeutig. Die Zeit während des Zweiten Weltkriegs verbrachte er zurückgezogen in Gloggnitz.

 Gloggnitz, April 2023

Wiedererrichtung
Das Dritte Reich lag in den letzten Zügen und die Rote Armee erreichte am 29. März 1945 ehemals Österreichisches Territorium. Karl Renner bot den Sowjets am 2. April 1945 in Hochwolkersdorf seine Mitarbeit am demokratischen Wiederaufbau Österreichs an. Stalin signalisierte Renner Unterstützung. Dieser agierte von Schloss Eichbüchl aus bereits wie ein voll amtierender Kanzler. Vielfach konnte er auf seine Erfahrungen aus dem Jahr 1918 zurückgreifen. In Wien traf Renner auf die reorganisierten Parteien. Am 27. April 1945 bildete er mit der ÖVP, der SPÖ und der KPÖ eine Konzentrationsregierung und wurde erneut zum Staatskanzler. Gleichzeitig wurde Österreichs Unabhängigkeit proklamiert - mit dem Ziel der Wiedererrichtung der Österreichischen Republik im Geiste der Verfassung von 1920. Renner überwand das Misstrauen zwischen den Parteien und gewann das Vertrauen der westlichen Alliierten. Ihm gelang die Durchsetzung österreichweiter demokratischer Wahlen bereits für November 1945. Seine Fähigkeit, politische Vision und pragmatischen Realitätssinn strategisch-wendig zu vereinen, retteten die Einheit Österreichs.

Mit der Bildung der ersten Konzentrationsregierung unter der Führung Karl Renners am 27. April 1945 wurde auch Österreichs Unabhängigkeit proklamiert (o.). Jenes Land, das laut Moskauer Deklaration der Alliierten aus dem Jahr 1943 das erste Opfer von Hitlers Angriffspolitik gewesen war. Das in der Deklaration geforderte Bekenntnis Österreichs an der Mitverantwortung am Krieg war in der Unabhängigkeitserklärung noch enthalten. Zunächst aus strategischen Gründen, um auf Sicht die völlige Souveränität wiederzuerlangen, wurde ein Geschichtsbild ins Leben gerufen, das Österreich ausschließlich als Opfer sah. Auch die Konflikte der Ersten Republik und die Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus wurden ausgeblendet. Bewusst zaghaft wurden die österreichischen Kriegsverbrecher verfolgt. Der Umgang der Bundesregierung und anderer maßgeblicher Institutionen mit dem Schicksal der jüdischen Opfer und Vertriebenen erfolgte absichtlich ignorant bis abweisend und bleibt ein Schatten auf der erfolgreichen Wiedergründung der Republik Österreich.

 Gloggnitz, April 2023

DIE HABSBURGERMONARCHIE - Völkerkerker oder Versuchsstation für den übernationalen Staat?
Das Habsburgerreich war ein seit dem Mittelalter gewachsenes Länderkonglomerat und Ergebnis vormoderner dynastischer Politik. In den großen Staaten Westeuropas vollzog sich mit der Herausbildung zentralistischer Verwaltungsstaaten, der Industrialisierung und der Entwicklung neuer Alltagskulturen ein umfassender Modernisierungsprozess. Dieser passte durch vielseitige Vereinheitlichungen die Sprachgrenzen den Landesgrenzen an. Dadurch entstand die Vorstellung, eine „Nation" umfasse in erster Linie ein gemeinsames Territorium und in diesem ließe sich sozialer Zusammenhalt nur über gemeinsame Abstammung bzw. Tradition und kulturelle Übereinstimmungen herstellen.

Im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie verstand sich im späten 19. Jahrhundert „Nation" nur als „Sprachnation". Weder die historischen politischen Einheiten noch die religiösen Trennlinien erwiesen sich als nationenbildend. So beherbergte das Land zehn große „Nationalitäten": Deutsch- (23,4%), Ungarisch- (19,6%), Tschechisch- (12,5%), Polnisch- (9,7%), Kroatisch- und Serbisch-(8,5%), Ruthenisch- (7,8%), Rumänisch- (6,3%), Slowakisch- (3,8%), Slowenisch-(2,4%) und Italienisch-Sprechende (1,5%); dazu weitere 4,5% der Bevölkerung, die sich zu keiner der „landesüblichen Sprachen" der Monarchie bekannten. Komplexe Konflikte zwischen den verschiedenen Nationalitäten um den Erhalt von Vorrechten bzw. um kulturell-politische Gleichstellung auf allen gesellschaftlichen Ebenen bestimmten das Geschehen. Brennpunkte waren Auseinandersetzungen um das Schulwesen und die Amtssprachen. Oft verknüpften sich wirtschaftliche und soziale Spannungen mit nationalistischen Gegensätzen.

Die Ideologie des Nationalismus mit ihrer Vorstellung von Homogenität und Einsprachigkeit betonte die kulturellen Unterschiede zwischen den Merischen. Das Gemeinsame des gedeihlichen vielsprachigen Alltagslebens und des vielfältigen innovativen Kulturschaffens in der Monarchie wurde überblendet. Die Reformunwillig- und Reformunfähigkeit des Herrscherhauses verstärkten die zahlreichen Konflikte. Die wachsende Heftigkeit der Auseinandersetzungen und schließlich der Erste Weltkrieg führten dazu, dass die verschiedenen Nationalitäten die Lösung ihrer Probleme außerhalb der staatlichen Ordnung der Donaumonarchie suchten. Deren endgültiger Zerfall 1918 beseitigte jedoch viele der nationalen Konflikte in den Nachfolgestaaten nicht.

Die Republik Deutschösterreich:
Alle deutschsprachigen Abgeordneten des letzten 1911 gewählten Reichsrates traten in Wien zur Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich zusammen und riefen am 12. November 1918 die Republik aus. Das Staatsgebiet der neuen Republik sollte im Sinne des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" alle deutschsprachigen Gebiete der österreichischen Reichshälfte umfassen. Sie sehen eine Karte der Republik Deutschösterreich.

Der „Anschluss" an die junge Weimarer Republik war allgemeines Ziel, wurde jedoch von den Siegermächten durch ein „Selbstständigkeitsgebot" untersagt. Was blieb, war eine Identitätskrise und ein nur schwacher Grundkonsens über den Sinn und die Ausgestaltung des neuen Gemeinwesens der Republik Österreich.

 Gloggnitz, April 2023

Allgegenwärtig war auch der Antisemitismus. Bei der Nationalratswahl 1920 wurde er radikal als Wahlpropaganda eingesetzt, wie das christlichsoziale Wahlplakat eindringlich zeigt. So verweigerte die bürgerliche Regierung 1921 ca. 75.000 aus den Nachfolgestaaten zugewanderten deutschsprachigen Juden und Jüdinnen die Staatsbürgerschaft, da sie nicht als „deutsch" galten.

Das deutschnationale Wahlplakat aus dem Jahr 1919 symbolisiert die weitverbreitete und intensive Betonung des „Deutschseins" Österreichs. Dies reichte von demokratischen, kulturromantischen und wirtschaftspolitischen bis hin zu völkisch-rassistischen Motiven.

 Gloggnitz, April 2023

Spottgedicht „Ernährungsglaube":
„Ich glaube an den Herrn Ernährungsminister, an die allein selig machende Mairübe, die Ernährung der rayonierten Volksmassen. Ich glaube an die stammverwandte Runkel- und Steckrübe, empfangen von dem heiligen Ernährungsamte, gelitten unter der Zentral-Einkaufsgenossenschaft, gesammelt, gepreßt und verdorben, zur Erde niedergefallen, am dritten Tage auferstanden als Marmelade, von dannen sie kommen wird als Erfrischungsmittel für die in langen Reihen angestellten Hungerleider. Ich glaube an den heiligen Profit und Rebbach, an die allgemeine Wuchergemeinschaft der Hamsterer, Erhöhung der Steuern, Verteuerung des Fleisches und an den ewigen Kriegszustand. Amen."
„Apostolikum" von Josef Redlich, 1918.

 Gloggnitz, April 2023

Firmenschild oder Staatswappen?
Die junge Republik suchte Staatssymbole für sich. Bereits 1918 wurde ein Emblem gesucht, „das die Hauptstände der Gesellschaft, Bürger, Bauer und Arbeiter symbolisch darstellt und in der Wahl der Farben schwarz, rot und gold die nationale Zusammensetzung der Republik Deutschösterreich versinnbildlicht."

Alle Entwürfe erinnerten zu sehr an „moderne Firmenzeichen". Daher wurde im Mai 1919 auf den zunächst als monarchisch abgelehnten Adler zurückgegriffen. Die Ständesymbole blieben leicht verändert und die großdeutschen Farben stark reduziert erhalten - bis heute.

 Gloggnitz, April 2023

DIE ERSTE REPUBLIK - Ein Staat zwischen zwei Katastrophen
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kehrte in weiten Teilen Europas 1918 kein Frieden ein: Revolutionen und Konterrevolutionen, Bürgerkriege, Verfolgung bzw. Vertreibung ethnischer und religiöser Minderheiten und blutige Grenzziehungskriege zwischen den neu entstehenden Nationalstaaten prägten das chaotische Bild. Fast zehn Millionen Menschen in Europa wurden zu Flüchtlingen. Althergebrachte Ordnungs- und Autoritätsvorstellungen zerbrachen. Radikale Sehnsucht nach alles umstürzender Neuordnung der Gesellschaft und fundamentale Angst davor standen sich gewaltbereit gegenüber.

Im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker sollte aus allen deutschsprachigen Teilen der österreichischen Reichshälfte die Republik Deutschösterreich entstehen. Die Vereinigung mit Deutschland war allgemeines Ziel. Der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye schlug jedoch viele Gebiete den neuen Nachbarstaaten zu und untersagte den „Anschluss". Der vermeintliche „Rest" - die Republik Österreich - erschien vielen als ein „Zwergstaat" ohne nationale Identität und wirtschaftlich nicht überlebensfähig. Dennoch wurden in den Jahren des Umbruchs eine parlamentarische Demokratie und ein moderner Rechts- und Sozialstaat etabliert. Auch in Belangen der Wissenschaft und Kultur erwarb sich die junge Republik ihre Verdienste. Zwei große politische Lager waren bestimmend: Die Christlichsoziale Partei repräsentierte den politischen Katholizismus und das besitzende Bürger- und Bauerntum. Sie orientierte sich an einem vormodernen Ideal einer gottgewollten ständischen Ordnung und der katholischen Soziallehre. Die Sozialdemokratie hingegen stand für die modernistische Veränderung aller Lebensbereiche im Sinne des Proletariats und die demokratische Überwindung des Kapitalismus mit dem Ziel des Sozialismus. Im Schatten der nicht zu bändigenden Weltwirtschaftskrise zweifelten immer mehr Menschen an der Demokratie. Ein Teil des bürgerlich-bäuerlichen politischen Spektrums begann die Errichtung eines autoritären Regimes anzustreben. In den radikaler werdenden Auseinandersetzungen erwuchs als dritte Kraft der Nationalsozialismus. Dieser gewann ab den 1930er Jahren durch wachsende Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Ordnungssehnsucht breiter verunsicherter Gesellschaftsschichten immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Beseitigung des Parlaments, Verfassungsbruch, Einschränkung der Bürgerrechte und schließlich ein Bürgerkrieg zwischen christlichsozial geführter Regierung und oppositioneller Sozialdemokratie waren Etappen auf dem Weg zur gewaltsamen Errichtung einer an ständisch-klerikalen und faschistischen Ideen orientierten Diktatur. 1934 war somit die junge österreichische Demokratie beseitigt. Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland 1938 verschwand unter Zustimmung von großen Teilen der Bevölkerung schließlich auch der österreichische Staat.

 Gloggnitz, April 2023

Blut auf den Straßen: Seit 1920 standen sich stets eine bürgerliche Regierung und eine oppositionelle Sozialdemokratie gegenüber. Demokratische Regierungswechsel kamen nicht vor. Gewalt war Teil des politischen Lebens in der Ersten Republik. Im Jänner 1927 wurde in Schattendorf ein sozialdemokratischer Demonstrationszug von antidemokratischen „Frontkämpfern" beschossen. Zwei Tote waren zu beklagen. Die Schützen wurden in Wien bei einem Schwurgerichtsprozess am 15. Juli 1927 freigesprochen. Es folgten Demonstrationen mit schweren Ausschreitungen und einem drastischen Polizeieinsatz mit 89 Toten. Diese Ereignisse waren für viele die Vorboten eines Bürgerkriegs.

Bürgerkrieg und Diktatur: Teile der Regierung erwägten immer offener die Errichtung einer Diktatur als Option zur „Lösung" der Probleme der Republik. Eine Politik der Deflation, des Sparzwanges und der Lohnkürzungen verschärfte die wirtschaftliche Situation und die soziale Lage weiter Teile der Bevölkerung. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß orientierte sich am faschistischen Italien und stärkte die Heimwehren, um die parlamentarische Demokratie zu beseitigen und autoritär regieren zu können. Nach kurzem blutigen Bürgerkrieg wurde mit der sogenannten „Mai-Verfassung" 1934 die junge österreichische Demokratie durch die bürgerliche Regierung endgültig gewaltsam beseitigt.

Engelbert Dollfuß wurde im September 1933 am Cover des Time-Magazines abgebildet.

 Gloggnitz, April 2023

Begeistert untergehen: Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 verschwand unter begeisterter Zustimmung von Teilen der Bevölkerung der österreichische Staat. Im April 1938 fand eine Volksabstimmung statt, deren Regeln und Ablauf allen demokratischen Grundsätzen widersprachen. Dabei votierten offiziell 99,73% der österreichischen und 99,08% der deutschen Bevölkerung für den „Anschluss". Eine Propaganda- und Gewaltwelle erfasste das Land. Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung und Andersdenkende folgten der Deutschen Wehrmacht auf dem Fuß.

Hellsichtige erkannten die verheerenden Ausmaße nationalsozialistischen Denkens. Wir zeigen eine französische Propagandapostkarte aus dem Jahr 1939: „Hitlers Traum".

 Gloggnitz, April 2023

Von alten Hüten und Elefanten: Die erste Nationalratswahl in der wiedererrichteten Republik fand am 25. November 1945 statt. Sie wurde von der ÖVP unter Leopold Figl mit dem Erreichen einer absoluten Mandatsmehr heit klar gewonnen. Die SPÖ unter Staatskanzler Karl Renner unterlag. Die KPÖ blieb deutlich hinter den Erwartungen. Von dieser Wahl waren rund 500.000 ehemalige Mitglieder der NSDAP und der NS-Wehrverbände ausgeschlossen. Die ÖVP setzte im Wahlkampf auf die Themen „Freiheit" und „Zukunft" mit starkem Österreich-Bezug. Die SPÖ thematisierte die Vergangenheit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus; auf den Wahlplakaten symbolisiert durch „alte Hüte".

Karl Renner prägte das Bild der vier Besatzungsmächte als vier Elefanten, die im kleinen Ruderboot Österreich Platz genommen haben. Oberste strategische Ziele waren die Etablierung einer stabilen demokratischen und wirtschaftlichen Ordnung und eben das Erreichen der völligen Unabhängigkeit.

 Gloggnitz, April 2023

Das Kriegsende: Für die US-amerikanischen Truppen in Übersee wurde eine eigene „Pony-Edition" des Time Magazines herausgegeben. Die Ausgabe vom 7. Mai 1945 hatte ein ikonisches Coverbild, das Hitlers Tod verlautbarte. Die Umstände seines Ablebens blieben länger ungewiss und so wurde er erst am 25. Oktober 1956 durch das Amtsgericht Berchtesgaden offiziell für tot erklärt.

Am 14. Mai 1945 titelte das Magazin mit „The big three - One job done" und verkündete so das Kriegsende in Europa. Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht in Kraft. In Asien endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation Japans am 15. August 1945. Dieser gingen die zwei verheerenden US-amerikanischen Atombombenabwürfe in Hiroshima und in Nagasaki voraus.

 Gloggnitz, April 2023

DIE ZWEITE REPUBLIK - Erfolgsgeschichte zwischen West und Ost und zwischen Einsicht und Verdrängung
Die Folgen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs waren verheerend. 247.000 Österreicher waren als Soldaten in der Deutschen Wehrmacht gefallen oder blieben vermisst. Die Zivilbevölkerung hatte ca. 24.000 Opfer durch Bombenangriffe und Kriegshandlungen auf österreichischem Territorium zu beklagen. Durch politische Verfolgung waren etwa 32.000 Österreicher/innen gestorben. Rund 65.000 österreichische jüdische Mitbürger/innen waren ermordet worden, rund 120.000 konnten fliehen oder wurden vertrieben. Der materielle Schaden durch Annexion und Krieg wird mit circa 11,6 Milliarden Euro beziffert. Zum Vergleich: Das österreichische Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Jahres 1950 betrug 3,8 Milliarden Euro. Die Aussage Karl Renners als Bundespräsident im Jahr 1950 „Wir Österreicher glauben an uns", wirkt in diesem Zusammenhang wie eine beschwörende Formel der Hoffnung inmitten eines zerstörten und von den vier Siegermächten besetzten Landes.
Um sich von der konflikt- und gewaltbeladenen Ersten Republik abzuheben, wurde ein demokratischer Grundkonsens und eine breite Kooperation der beiden großen politischen Lager - SPÖ und ÖVP - geschlossen. Proporz und Konkordanz bildeten in den staatlichen Institutionen und der politischen Praxis zentrale Säulen. Unterstützt vom US-amerikanischen European Recovery Program (ERP) gelang der wirtschaftliche Wiederaufbau Österreichs. Zum friedlichen Ausgleich der Interessengegensätze zwischen Arbeit und Kapital gründete sich die Sozialpartnerschaft. Aus Österreich wurde eine erfolgreiche Demokratie, Wohlstandsgesellschaft und Volkswirtschaft. Schrittweise etablierte sich ein starkes Österreich- und Demokratiebewusstein unter weiten Teilen der Bevölkerung.

Das BIP betrug im Jahr 1960 bereits 11,8 und im Jahr 1980 76,4 Milliarden Euro. 1965 besaßen von hundert Haushalten 30 einen eigenen Fernseher und 33 einen eigenen PKW. 1985 konnten bereits 87 Haushalte einen Fernseher und 90 einen PKW ihr Eigen nennen. Die politisch erfolgreichen Großparteien repräsentierten fast gänzlich die österreichische Bevölkerung, was sich 1975 in 93,3 Prozent der Wähler/innenstimmen für SPÖ und ÖVP und einer Wahlbeteiligung von 91,9 Prozent ausdrückte. Begünstigt wurden Österreichs Unabhängigkeit und Aufstieg durch seine geografische Lage zwischen „Ost" und "West" im entstehenden „Kalten Krieg" und durch eine expandierende Weltwirtschaft. Die Konflikte der Ersten Republik und die Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus wurden jedoch ausgeblendet. Ein Geschichtsbild, das Österreich ausschließlich als Opfer sah, wurde gepflegt.

VEREINIGTES EUROPA? Eine historische Lernprovokation
Der Erste Weltkrieg wurde begonnen, ohne die Folgen der modernen industrialisierten Kriegsführung klar abschätzen zu können oder zu wollen. Die Illusion eines kurzen Krieges erwies sich als falsch, mit katastrophalen Folgen. Der europäische Krieg wuchs sich zu einem Weltkrieg aus und trug Züge eines totalen Krieges: die Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen, die Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft, die Radikalisierung der Kriegsziele sowie die Ausuferung der Gewalt. Im Krieg starben rund 9,6 Millionen Soldaten. Unter der Zivilbevölkerung gab es 5,6 Millionen Opfer. 20 Millionen Menschen wurden verletzt. Materieller und wirtschaftlicher Schaden sind kaum in Zahlen zu bemessen, erst recht nicht das menschliche Leid. Die Gewalterfahrungen an der Front und das Elend hinter der Front ließen Millionen Menschen als psychisch und/oder physisch invalid zurück und bereiteten den Boden für totalitäre Ideologien. Der Zweite Weltkrieg steigerte die Dynamik der Zerstörung. Industrialisierter Massenmord, systematische Kriegsverbrechen und millionenfache Vertreibung eröffneten neue Dimensionen kriegerischer Gewalt. Für die durch direkte Kriegseinwirkung und -verbrechen Getöteten werden Schätzungen bis zu 71 Millionen weltweit angegeben, davon mehr als die Hälfte zivile Opfer. Der europäische Kriegsschauplatz forderte mit rund 40 Millionen Toten den höchsten Blutzoll.

Diese Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten bei der Mehrheit der politischen sowie wirtschaftlichen Eliten und bei weiten Teilen der Bevölkerung zu einer „historischen Lernprovokation" (Oskar Negt). Die Bereitschaft zu Frieden und gemeinsamem Wiederaufbau unterschied 1945 von 1918. Die Etablierung stabiler rechtsstaatlicher Einrichtungen, parlamentarischer Demokratien und sozialstaatlicher Marktwirtschaften waren die Lehren aus den Katastrophen. Die Vision eines friedlichen vereinten Europas fußte auf den Erfahrungen des Krieges. Der französische Außenminister Robert Schuman schlug im Mai 1950 die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor und proklamierte: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen." Der Grundstein zur europäischen Vereinigung war gelegt.
Geraten diese schmerzhaften Ursprungsquellen der Vision eines vereinigten Europas in Vergessenheit?

 Gloggnitz, April 2023

Pionierinnen
1918 die erste Gemeinderätin in NO: Marie Brunner (SDAP)¹, Baden bei Wien
1919 die ersten Frauen als Abgeordnete:
Anna Boschek (SDAP)
Hildegard Burjan (CSP)2
Emmy Freundlich (SDAP)
Adelheid Popp (SDAP)
Gabriele Proft (SDAP)
Therese Schlesinger (SDAP)
Amalie Seidel (SDAP)
Maria Tusch (SDAP)
1927 die erste Vorsitzende des Bundesrates:
Olga Rudel-Zeynek (CSP)
1945 die erste Frau in der Bundesregierung: Helene Postranecky (SDAP/KPÖ)
1948 die erste Bürgermeisterin: Kreszentia Hölzl (SPÖ), Gloggnitz
1966 die erste Bundesministerin: Grete Rehor (ÖVP)
1996 die erste Frau Landeshauptmann: Waltraud Klasnic (ÖVP), Steiermark
2006 die erste 1. Präsidentin des Nationalrats: Barbara Prammer (SPÖ)
2017 die erste Landshauptfrau in NÕ: Johanna Mikl-Leitner (ÖVP)

Die erste Bürgermeisterin: Kreszentia „Zenzi" Hölzl (1893-1958) arbeitete in der Tabaktrafik in Gloggnitz, die ihr Mann als Kriegsinvalide des Ersten Weltkrieges erhalten hatte. In der Zeit des Austrofaschismus war die Trafik ein Treffpunkt illegaler sozialdemokratischer Aktivisten und Aktivistinnen. Von 1945 bis 1949 war Hölzl Abgeordnete im niederösterreichischen Landtag. Im Jahr 1948 wurde sie Bürgermeisterin in Gloggnitz und war damit die erste Bürgermeisterin Österreichs. Sie übte dieses Amt bis 1958 aus. In ihrer Amtszeit als Bürgermeisterin setzte sie sich für die Erbauung des Alpenbades Gloggnitz ein, errichtete eine Mutterberatungsstelle und forcierte die Erneuerung der Wasserversorgung.
Das Gemälde wurde vom hiesigen Maler Franz Trimmel angefertigt. Er ergänzte seine Politiker/innenportraits gerne mit bekannten Werken von Karl Renner.

 Gloggnitz, April 2023

Ein vorläufiges Schlusswort: Kaum eine andere österreichische politische Führungspersönlichkeit ist so eng mit den Zusammen-, Um- und Aufbrüchen der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben wie Karl Renner; verwoben mit der Anerkennung ihrer großen historischen Leistungen wie mit der Verantwortung für ihre historischen Fehlleistungen. Hochverehrt und scharf kritisiert polarisiert er bis heute. Zunächst fasziniert er als visionärer Theoretiker mit langfristigen Zielorientierungen. Auch beeindruckt er als volksverbundener populärer Politiker, der Menschen gewinnen konnte, wobei sein Entgegenkommen gegenüber Volkes Meinung sehr weit gehen konnte. Ebenso galt er als Tagesrealpolitiker des Ausgleichs und des Kompromisses, jedoch mit der Bereitschaft, dafür seine politischen und persönlichen Grenzen des Tolerierbaren sehr weit zu ziehen. Alles in allem bleibt er jenseits aller Heils- und aller Verdammungsgeschichtsschreibung eine epocheprägende politische Ausnahmerscheinung und eine typisch österreichische Gestalt, mit allem Drum und Dran.

Karl Renner, Totenmaske, abgenomme von Johann Berger im Auftrag von Gustinus Ambrosi, 1950

 Gloggnitz, April 2023

Renner-Linde - Zur Erinnerung an den bedeutenden Staatsmann Dr. Karl Renner; gepflanzt von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer am 2. April 2005

 Gloggnitz, April 2023



Wem der viele Text zu lange war und lieber Bewegtbilder mit Musik mag, kann sich gerne dieses Video antun: