Volkskundemuseum am Paulustor

in Graz, Dezember 2022

Das Volkskundemuseum am Paulustor nimmt mit seiner Dauerausstellung "Welten – Wandel – Perspektiven" menschliche Lebenswelten in Zeiten von Veränderungen in den Blick: Was prägt und bewegt die Menschen? Womit identifizieren sie sich, wie gestalten sie ihr Leben, ihre Umwelt, die Gesellschaft? Und wie gehen sie mit Ungewissheit und Krisen um?

Die Antoniuskirche mit Gemälden von Pietro de Pomis und Hans Adam Weißenkircher ist in den Ausstellungsrundgang eingebunden und der Trachtensaal aus den späten 1930er- Jahren wird seit 2022 in einer veränderten Lesart als vielschichtiger volkskundlicher Wissens- und Erfahrungsraum präsentiert.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Das Paulustor ist eines der bedeutendsten erhaltenen Renaissance-Stadttore im deutschsprachigen Raum.
Die Paulustorvorstadt im nordöstlichen Teil von Graz wurde ab 1578 bewusst geplant, um die Stadt vor den Osmanen zu schützen. Das neue Viertel war durch die mittelalterliche Verteidigungsmauer vom Stadtkern getrennt und nur über das Innere Paulustor erreichbar. Dieses lag zwischen dem Palais Saurau und dem ehemaligen Gasthaus zur Goldenen Pastete und wurde Mitte des 19. Jahrhunderts abgetragen. Das äußere Paulustor jedoch blieb erhalten und gehört zum architektonisch markanten Umfeld des Volkskundemuseums.

Volkskundemuseum
„Volkskundliche Abteilung bewilligt!!!" So schrieb Viktor Geramb, der Gründer des Volkskundemuseums, 1913 in seinen Kalender. Als Grundstock dafür konnte er die „bäuerliche Sammlung" aus der Kulturhistorischen Abteilung des Joanneums herauslösen. Die Räume wurden für den Museumsbetrieb adaptiert und die erste Ausstellung nach dem Ersten Weltkrieg eröffnet. Bauliche Erweiterungen und inhaltliche Neuausrichtungen prägten die Jahrzehnte danach: In den 1930er-Jahren kam ein neuer Trakt mit dem Trachtensaal dazu, 2003 wurde nach einem Umbau die Dauerausstellung „Wohnen - Kleiden – Glauben" eröffnet. Seit 2021 sind die Antoniuskirche und der Innenhof für den Museumsbetrieb geöffnet, die neue Ausstellung widmet sich Fragen der Gegenwart. Auch in Zukunft will sich das Volkskundemuseum stetig an den Bedürfnissen der Gesellschaft weiterentwickeln.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Der 209 m² große „Heimatsaal" am Fuße des Schloßbergs wurde im Zuge der Errichtung des neuen Gebäudetraktes in den späten 1930er-Jahren erbaut. Nach den Vorstellungen des Museumsgründers Viktor Geramb sollte der Saal die als bedroht wahrgenommene „eigene Kultur" stärken, wurde jedoch erst nach 1945 in Betrieb genommen. Neben Sing-, Tanz- oder Theaterveranstaltungen des Museums fanden hier auch Präsentationen des „Steirischen Heimatwerks" statt. Später wurde der Saal auch von Veranstaltern wie dem Katholischen Bildungswerk für Schulveranstaltungen und Diavorträge genutzt. Für die Neueröffnung 2021 wurde der „Heimatsaal" renoviert und barrierefrei erschlossen. Damit öffnet sich das Museum einer Vielfalt an Formaten und Inhalten, die den Diskurs zu gesellschaftsrelevanten Themen beleben.

Das Kapuzinerkloster in der Paulustorgasse war das erste dieses Ordens auf dem Gebiet der heutigen Steiermark. Wie andere Orden auch, sollten die Kapuziner die katholischen Landesherren beim Kampf gegen den Protestantismus unterstützen. 1605 zogen die ersten Ordensbrüder ins Kloster ein. Die Kapuziner – ein Bettelorden haben dafür klare Bauvorgaben formuliert, die bis heute gelten: Einfach und schlicht, aber beständig, stabil und praktisch sollen ihre Klöster sein. Alles soll Armut, Demut und Bescheidenheit zeigen. Die Kapuziner wurden wegen ihrer volksnahen Predigten, Kranken- und Seelsorge und ihrem bescheidenen Lebensstil bald beliebt. Mitte des 17. Jahrhunderts war die katholische Religion im Gebiet der heutigen Steiermark wieder fest verankert.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Mit der musealen Geschichte des Hauses verbunden ist diese Rauchstube, die Viktor Geramb im Jahr 1914 aus Oberrohrbach auf der Pack in das Museum übertragen ließ. Damals wie heute ist dieser historische Wohnraum ein bedeutendes Sammlungsobjekt für das Museum, das über Wohnverhältnisse in früheren Jahrhunderten Aufschluss gibt. In der Rauchstube spielte sich ein Großteil des bäuerlichen Lebens ab: Heizen, Kochen, Essen, Körperhygiene, Kinderbetreuung, Kleintierhaltung, Arbeiten, geselliges Zusammensein, religiöse Andacht, auch Schlafen und vieles mehr. Von dieser „Einraumwohnung" lassen sich Fragen ableiten, die auch für heutige Wohnmodelle interessieren, etwa zu gesundheitlichen und sozialen Aspekten, zur Organisation des Zusammenlebens und Taktung des Alltags oder auch Fragen zu Privatsphäre, Intimität und Sexualität. Der Rauchstube angeschlossen ist ein Hörraum, der eine quasi 1:1 in Schaumstoff übersetzte Rauchstube abbildet. Zur Eröffnung des neuen Volkskundemuseums wurden Mitarbeiter*innen interviewt, die über das renovierte Museum, seine Räume und die neue Ausstellung sprechen.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Uns geht es gut!? - Beispiel Steiermark
Die Steiermark ist heute eine aufstrebende mitteleuropäische Region und Teil eines der wohlhabendsten Staaten der Welt. Stetig steigender Konsum und Fortschritt, wachsende Lebensqualität, Bildung und Mobilität widerspiegeln ein breites Verständnis westlicher Wohlstandsentwicklung und gehören zum Selbstverständnis vieler Bewohner*innen dieses Landes. Was aber können diese messbaren „Uns geht es gut"-Faktoren konkret über das Land erzählen? Welche Auswirkungen haben Wohlstand und Fortschritt, eine westliche Konsumpraxis oder mehr Mobilität auf Umwelt und Gesellschaft? Und können alle, die hier leben, von diesen Wohlstandsentwicklungen gleichermaßen profitieren?

Dieser Ausstellungsteil durchleuchtet gegenwärtige „steirische" Selbstbilder und ihre Entstehung. Er erkundet ihre Intentionen und Nutzungen anhand ausgewählter kulinarischer Aushängeschilder, des Bildungssektors, einer beliebten Tourismus- und Gesundheitsregion, am Beispiel von Industrieprodukten mit hohem Imagewert und prägenden Entwicklungen im Bereich der Mobilität. Im Mittelpunkt stehen Akteur*innen der Geschichte, die Veränderungen herbeiführ(t)en und gesellschaftliches Geschehen beeinfluss(t)en.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Grazer Tafel
Unterrichtstafel Homo (Der Mensch) für Erzherzog Ferdinand Karl, Wien, 1760, Inhalt: Philipp von Rottenberg, Gestaltung: Jacques Roëttiers | Kulturhistorische Sammlung am Universalmuseum Joanneum

Als Teil der „Grazer Tafeln" vermittelte dieses Unterrichtsmaterial dem jungen Aristokraten die drei standesgemäßen Bildungswege. Diesem Bildungszugang der Eliten wurde ab 1774 die Bildung der breiten Bevölkerung in Form der Allgemeinen Schulpflicht zur Seite gestellt.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Nahrung mit Signalwirkung
Steirische Äpfel, Käferbohnen und Kürbiskernöl, steirisches Backhendl, Steirerkäse und Vulcanoschinken - diese Produkte aus dem „Feinkostladen Steiermark" und den deklarierten Genussregionen vermitteln Gefühle und Bilder von „Heimat" und „Regionalität". Regionale Erzeugnisse werden zu unverwechselbaren Aushängeschildern: Versprochen wird das „gute Leben", nachhaltige Wertschöpfung, authentisches, qualitätsvolles, ja vielfältiges Essen. Regionalität als Konzept ist eng mit Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen verbunden sowie Teil eines kulturellen Ordnungssystems. Ob „steirischer Apfel" oder „steirisches Backhendl" - was heute als „regionale Besonderheit" beworben wird, ist Produkt historischer wie gegenwärtiger (land) wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklungen im Kontext von Nahrungssicherheit, Nahrungsmittelproduktion und -konsum.

Auch die Mensch-Umwelt- und Mensch-Tier-Beziehungen unterliegen dem Wandel. Veränderte Vorstellungen einer ethisch korrekten Tierhaltung, neues Nahrungswissen, eine zunehmende Auseinandersetzung mit den Bedingungen in der Nahrungsmittelproduktion, mit Umwelt- und Klimaschutz beeinflussen auch jene Produkte, die seit Langem mit dem Label „regional" versehen sind. Die Ausstellung möchte diese Entwicklungen deutlich machen und greift zwei Beispiele heraus: den steirischen Apfel und das Altsteirer Huhn.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Mobilität und Mobilitätserfahrungen
Sich fortzubewegen ist ein Grundprinzip von Leben und Überleben. Menschen bewegten sich immer schon aus ökonomischer und ökologischer Notwendigkeit, aus Furcht vor Unheil und Bedrohung oder aus Neugier und Entdeckungsfreude. In der Nachkriegsgesellschaft wurde Mobilität durch zunehmende Motorisierung zum Inbegriff von Unabhängigkeit, Abenteuer und Erfolg. In der Steiermark ist die Möglichkeit der Fortbewegung historisch wie gegenwärtig eng mit den großen Industrien des Landes verbunden. Einzelne Firmen und ihre Erzeugnisse stehen für jahrzehntelange, auch überregionale Anziehungskraft bei Konsument*innen, der Maschinen- und Fahrzeugbau ist der größte Arbeitgeber in der Region. Steigende Mobilität und Verkehr gehen allerdings zulasten von Umwelt und Ressourcen. Die ökologischen Probleme des motorisierten Transports bedrohen die Erde, Lösungen im Sinne einer Energie- und Verkehrswende werden auch in der Steiermark gesucht. Nicht alle Menschen haben das Privileg, selbstbestimmt mobil zu sein. Der Arbeitsmarkt macht viele gerade aus strukturschwächeren Regionen zu Berufspendler*innen. Flucht vor Krieg und Gewalt, Armut oder auch Auswirkungen des Klimawandels zwingen Millionen Menschen, ihre Regionen unter teils lebensbedrohlichen Umständen zu verlassen. Anhand ausgewählter Objekte erzählt die Ausstellung Aspekte von Mobilitätsgeschichte, verknüpft sie mit individuellen Erfahrungen und lädt dazu ein, die eigene Mobilitätspraxis zu reflektieren.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Hölzernes Fahrrad mit Tretkurbelnm, Rupert Greimer/Greiner, um 1898
Volkskundemuseum/UMJ
Velozipede waren im 19. Jahrhundert in Westeuropa Kult geworden, überall versuchte man Fahrräder schneller, leichter und sicherer zu machen. Sie waren Transportmittel und Symbol für Spaß, Freude und Freiheit. Diese Faszination hat auch den Almhirten Greimer (geb. 1876 in Pöllau) aus der Obersteiermark erfasst. Eines seiner Modelle gelangte 1924 ins Museum.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Hebammen-Set von Resi Hainzl

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Puch-Moped MS 50L, Baujahr 1954 | Familie Unger
Gegenstände können über ihren Zweck hinaus Erinnerungen hervorrufen oder prägen mitunter ganze Generationen. Zum Beispiel ein Puch-Moped: Für die Familie des Vorbesitzers ist es mit Erzählungen über den Urgroßvater verknüpft. Andere lässt es an das eigene erste Moped denken, an Freiheit und Freizeitvergnügen. Motorräder der Marke Puch werden nicht mehr erzeugt, der Name ist jedoch vielfach mit nostalgischen Gefühlen verknüpft.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Mobiltelefone verschiedener Hersteller und Epochen - Die Podcasts zeigen: Smartphones sind als mobile digitale
Begleiter fixer Bestandteil des Alltags. Menschen tragen diese Geräte fast immer bei sich, verinnerlichen damit verbundene Berührungsmuster, Tastenentfernungen und Haptik des Displays. Was mit mobiler Telefonie und SMS begann, erfüllt heute unterschiedlichste Funktionen. Die Sammlung alter Mobiltelefone zeigt die Historizität von Technik und weckt Erinnerungen: Ist Ihr erstes Handy dabei? Welche Erinnerungen verknüpfen Sie mit Ihrem ersten Mobiltelefon?

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Ideen verbinden. Handeln im Sinne der Menschenrechte
Seit 2001 trägt Graz den Titel „Stadt der Menschenrechte". Verschiedene Einrichtungen wurden seither etabliert, so das Europäische Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie (ETC), der Menschenrechtsbeirat oder zuletzt das UNESCO-Zentrum zur Förderung der Menschenrechte in Gemeinden und Regionen. Die Geschichte der Menschenrechte in der Steiermark reicht zurück bis ins Jahr 1948, als die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedete. Akteur*innen der internationalen Liga für Menschenrechte wollten das aus der NS-Zeit stammende Image von Graz als „Stadt der Volkserhebung" wenden und gegen Rassismus und Diskriminierung auftreten. Sie begannen ab den 1980er-Jahren, die verdrängte Geschichte von NS-Endphasenverbrechen in Graz aufzuarbeiten. Dabei rückte auch das Haus Paulustorgasse 8 in den Fokus: Gegenüber dem Volkskundemuseum befand sich das gefürchtete Gestapo-Hauptquartier mit Gefangenenhaus. Diese Forschungen wurden mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet. 1998 beschloss die Stadt Graz im Zeichen eines „interreligiösen Dialogs" den Bau einer neuen Synagoge am Ort der im November 1938 zerstörten alten Synagoge und übergab sie im Jahr 2000 der jüdischen Gemeinde. Menschenrechte sind universell und in Österreich geltendes Recht. Aktivist*innen, NGOs und öffentliche Einrichtungen kämpfen für ihre Einhaltung und helfen, das Wissen um ihre Relevanz für das eigene Lebensumfeld zu festigen.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Von der Aufklärung bekämpft - Krisenbewältigung durch Glauben
Die menschliche Existenz ist ständig gefährdet durch kollektiv oder individuell erfahrene Bedrohungen. Heute versuchen Wissenschaften, diese Bedrohungen realistisch einzuschätzen und mit überprüfbaren Methoden zu bekämpfen. Diese Errungenschaft der Aufklärung hat in Europa seit dem späten 17. Jahrhundert Rationalität zur Maxime menschlichen Handelns gemacht. Gefahren lauerten überall: Seuchen, Hungersnöte, Armut, Krankheiten, aber auch Machtmissbrauch und kriegerische Auseinandersetzungen machten das Leben fragil. Wo heute Wissenschaft, Medizin und Technik die Nöte des Lebens zu lindern versuchen, stand den Menschen damals vorrangig die Tröstung der Kirche zur Verfügung. Wenn Glaube und Gebet, Wallfahrt und Spende keine Linderung brachten, blieb immer noch die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits.

Daneben gediehen aber in allen Kreisen der Bevölkerung weltliche Denkweisen und Praktiken der Selbsthilfe, die viele mühelos in ihre religiöse Praxis einbauten. Sie wurden von Beobachtungen aus der Natur, Analogien des Denkens, mit Restformen antiker und mittelalterlicher Anschauungen gespeist und boten einen reichhaltigen Schatz an praktischem Wissen, um drohende Schicksalsschläge abzuwenden oder erlittene zu mildern. Teile dieses Denksystems mit seinen eigenen Logiken durchzogen selbst die katholische Religionsausübung der Gegenreformation. Der andere, weit größere Teil wurde von der Kirche als „Aberglaube" bezeichnet und bekämpft.

Hl. Florian, Steiermark, 1928

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Was wird sein? Krisen und Krisenbewältigung in früheren Zeiten
Immer wieder in der Vergangenheit sahen sich Menschen radikalen Veränderungen ausgeliefert und waren Bedrohungen ausgesetzt. Solche Krisenzeiten, seien sie persönlich oder gesellschaftlich, führen zu Umbrüchen bestehender Ordnungen. Gegen die Unsicherheit in Phasen des Übergangs entwickeln Menschen Methoden zur Bewältigung ihrer Ängste. Erlernte Glaubenspraktiken, die Verwendung erprobter oder neuer Hilfsmittel oder auch die Entwicklung neuer Strukturen und Denkweisen sollen in Krisenzeiten schützen, stärken und helfen. So wie heute unterschiedliche Deutungsinstanzen oder Akteur*innen Orientierung im Umgang mit der Covid-19-Pandemie anbieten, wurden auch in vergangenen, als krisenhaft verstandenen Zeiten Lösungsangebote entwickelt oder verstärkt.

Was wird sein? widmet sich am Beispiel von vier ausgewählten historischen Epochen in der Steiermark Formen der individuellen und gesellschaftlichen Krisenerfahrung und ihrer Bewältigung:
- Formen der Welterklärung vor der Zeit der Aufklärung und die aus diesem Denken heraus entwickelten Hilfsangebote
- die Bemühungen Erzherzog Johanns um eine wirtschaftlich schwach ausgebildete Region
- die politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich brisanten 1930er-Jahre und die in dieser Krise von Politik und Volkskunde ideologisch gestützten Identitätsangebote
- die Transformationen der 1980er-Jahre in der obersteirischen Industrieregion im Kontext einer weltweiten Stahlkrise
Die Ausstellung entlässt Sie wieder in die Gegenwart und zur Auflösung unserer interaktiven Umfrage „Was meinst du?".

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Politische Krise - Das Volkskundemuseum als Ressource in der Zwischenkriegszeit
In den frühen 1930er-Jahren zeigten sich in vielen Ländern Europas gesellschaftlich-politische Spannungen, die Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus. Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise ließen auch in Österreich soziale Konflikte und eine politische Krise sichtbar werden. Mit der Etablierung des autoritären „Ständestaats" (Austrofaschismus) im Jahr 1933/34 gingen weitreichende Veränderungen auf allen Gebieten des politischen Lebens einher. Die Einengung der Kultur auf „christlich und deutsch" diente dabei der Durchsetzung politischer Interessen. In der Steiermark wurde durch Landeshauptmann Karl Maria Stepan das Steirische als Gegenpol zur ungeliebten Hauptstadt Wien stark propagiert. In dieser Zeit bot das Volkskundemuseum mit Viktor Geramb an der Spitze der Politik die gewünschte kulturelle Ressource und erhielt im Gegenzug politische Aufmerksamkeit. Mit der Etablierung des Steirischen Heimatwerks im „Stöckl"-Gebäude und der Planung und Durchführung des landesweiten „Steirischen Volkstages" war der Volkskundler Geramb aktiv am Aufbau und der Stärkung einer spezifischen Idee des „Steirertums" beteiligt. Insbesondere über „wahre und echte" Tracht, über Volkslied und Volkstanz vermittelten die volkskundlichen Akteur*innen in der Paulustorgasse ganz im Sinne der Politik kulturell gestützte Identitätsvorstellungen - auch nach 1945.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Erzherzog Johann - Verwertbares Wissen als Antwort auf die Krise
Um 1800 befand sich das Land Steiermark in einer ökonomisch und sozial prekären Situation. In einem sich rasant entwickelnden Europa blickte man auf die Steiermark als ein zurückgebliebenes „Armenhaus". In dieser Lage fand der vom Wiener Hof aus politischen und militärischen Ämtern verdrängte Erzherzog Johann (1782-1859) in der Steiermark ein reiches Betätigungsfeld. Um das Land zu reformieren, bediente sich der Habsburger moderner wissenschaftlicher Methoden: Er initiierte eine statistische Umfrage, um damit in weiterer Folge Reformen einleiten und die Situation für alle verbessern zu können. Auf seiner England- und Schottlandreise 1815/16 sammelte er Erfahrungen und Wissen, die seine Modernisierungsprojekte prägten. Beeinflusst vom Geist der Aufklärung und ihren erzieherischen Bemühungen, wurde Erzherzog Johann zum Reformer und Förderer von Industrie, Landwirtschaft, Eisenbahnwesen und sozialer Fürsorge in der Steiermark. Zugleich wollte er kulturelle Traditionen pflegen und berücksichtigte nicht, dass diese gerade aus der alten, ländlichen Lebensweise entstanden waren und durch seine Modernisierungsbestrebungen ihre Grundlage verloren. Als Erneuerer und zugleich Bewahrer wurde er auch später immer wieder in Erinnerung gerufen, besonders von den Vertretern des Volkskundemuseums.

Büste Erzherzog Johanns
Wilhelm Gösser, 1933, Spende von Dr. Felix Alexander Mayer, Mitbegründer der Humanic Leder- und Schuh-AG Wien-Graz Landwirtschaftsmuseum Schloss Stainz/UMJ
Die Skulptur des Leobener Künstlers (und NSDAP-Mitglieds) Wilhelm Gösser wurde dem Volkskundemuseum Anfang des Jahres 1933 von einem wohlhabenden Spender und Gönner des Museums geschenkt, der allerdings in der Öffentlichkeit anonym bleiben wollte. Die Person Erzherzog Johanns war die perfekte Identifikationsfigur in einer Zeit massiver innen- und außenpolitischer Krisen.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Die Legende vom weisenden Kultbild
Die Empore wurde beim Umbau 2020/21 mit einem hölzernen Steg neu gestaltet. So öffnet sich ein neuer Blickwinkel in den Kirchenraum. Wie die Ausstattung des Inneren nach Fertigstellung des Sakralbaus 1602 aussah, ist bisher nicht bekannt, da Abbildungen aus dieser Zeit fehlen. Bekannt ist: Als Stifter unterstützte Ferdinand II. den Bau mit „reichlich Mitteln", wie aus der Abschrift einer Quellensammlung zum Kloster hervorgeht. Darin findet sich auch eine Legende zur Ortswahl: Maria Anna von Bayern, Mutter des Erzherzogs, war ebenso eine Gönnerin des Kapuzinerordens. Vor Beginn der Bauarbeiten entspann sich ein Streit um den Standort: Die Abschrift berichtet, dass „mehrere Kriegsräte" sich entschieden gegen den Neubau stellten. Bei feindlichen Angriffen auf den Schloßberg sei er bei der Verteidigung lediglich ein Hindernis. Die Erzherzogin intervenierte daher zugunsten des Ordens.

Eine Marienstatue aus ihrem Besitz habe zu ihr Folgendes gesprochen: „Zwischen Tiefe und Höhe soll eine geistliche Burg erstehen, damit kein Feind wage, die Burg von Graz anzugreifen noch sie zu besiegen." Daraufhin gaben die Kriegsräte ihren Widerstand auf, Kirche und Kloster wurden hier errichtet. Diese Legende verweist auf das Motiv des sogenannten weisenden Kultbilds, das oft zur Standortwahl von Kirchen herangezogen wurde. Sie ist vielleicht auch ein Grund, warum im Altarbild links oben der Schloßberg samt Kapuzinerkloster und Antoniuskirche abgebildet ist.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Antoniuskirche
Die Grundsteinlegung für die Kirche erfolgte am 10. August 1600 im Beisein des Habsburgers Ferdinand II., seit 1595 Landesherr von Innerösterreich. Er war tief katholisch und ein kompromissloser Gegner der protestantischen Lehren. Zur Unterstützung bei der Bekämpfung der Protestant*innen rief er den Kapuziner Laurentius von Brindisi nach Graz. In Ferdinands Auftrag gründete er Kloster und Kirche. Der Ort wurde angeblich gewählt, weil hier laut Quellen zwei Tage davor 10.000 protestantische Bücher verbrannt wurden. Ob dies tatsächlich hier stattfand, konnte bislang nicht bestätigt werden. Das Volkskundemuseum nutzt die Antoniuskirche seit 1916 für die Aufführung der Hirten- und Krippenlieder. Seit 2021 ist sie barrierefrei an das Museum angebunden. Im Museum, das seit 1913 im ehemaligen Kapuzinerkloster untergebracht ist, erfahren Sie mehr über die bewegte Geschichte dieses Areals und seine Nutzung im Laufe der Jahrhunderte.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Das Volkskundemuseum beherbergt heute einen der wenigen noch erhaltenen „Trachtensäle" - ein unbequemes Erbe der 1930er-Jahre. Der Museumsleiter, Volkskundler und „Heimatschützer" Viktor Geramb hat hier mit 42 Figurinen in acht Vitrinen „Tracht" und mit ihr die Steirer*innen auf ein Podest gehoben. Vorlage dafür war das von ihm zeitgleich herausgegebene Steirische Trachtenbuch, begründet von Konrad Mautner, Sohn Wiener jüdischer Industrieller und Sammler von Volksliedern und Trachten. Im Sommer 1938, wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen in Österreich, führte Geramb die ersten Besucher*innen durch die unfertige „Trachtenschau", an deren musealer Inszenierung er von 1936 bis 1939/40 arbeitete.

Funktionelle Kleidung
Tracht bedeutet so viel wie „das, was getragen wird". Bis zur Aufklärung gab es genaue Vorschriften, wer welche Kleidung tragen durfte - je nach sozialem Stand und Geschlecht. Geprägt wurde der Begriff aber erst Ende des 18. Jahrhunderts durch die entstehenden Nationaltrachten. Rund 100 Jahre später bekam Tracht die Funktion, eine heile Vorstellung von Heimat zu bewahren und die Sehnsucht nach einem „deutschen Wir" zu wecken.

Für die Idee von Tracht als „Kleid der Heimat" machte sich auch Viktor Geramb stark und wurde zu einem Vorreiter der „Trachtenerneuerung". Diese beruhte auf dem Erforschen, Tragen, Zeigen, Normieren, also dem Pflegen von Tracht in Wissenschaft, Museum und Alltag. Gerade auch Geramb hat dabei das „Bauerntum" als „Mutterboden" einer deutschen Kultur mythisch überhöht. Im Trachtensaal sollten die historischen Kleidungsstücke den Besucherinnen ein Gefühl für Stil, Form und Farbe vermitteln und dem „Kitsch" entgegenwirken - in einer Zeit, in der Tracht vom städtischen Mode-Dirndl, von Sommerfrische und Unterhaltungskultur stark beeinflusst wurde. Gleichzeitig stützte das Zeigen dieser Kleiderordnung das Bild einer ständischen Ordnung: Welche Kleidung tragen Bauer und Bäuerin, Sennerin, Landbürger oder Hammerfrau? Der im Austrofaschismus geplante hierarchische Aufbau einer berufsständischen Gesellschaft sollte für Stabilität und Harmonie sorgen oder einen Klassenkampf aufgrund sozialer Schieflagen vermeiden - je nach Sichtweise des politischen Lagers.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Trachten nach Identität
Theatralisch, leblos, unheimlich – so muten die Figurinen heute mitunter an. Die Zeit ihrer Entstehung ist ihnen eingeschrieben: Österreich wurde ab März 1933 autoritär regiert, orientiert am italienischen Faschismus. Nach Ausschaltung der Opposition erließ die Diktatur „im Namen Gottes" eine Verfassung auf vormoderner ständischer Grundlage und erklärte Österreich zu einem „christlich-deutschen Bundesstaat" in Abgrenzung von Nationalsozialismus und Kommunismus. Für die Bildung und Inszenierung seiner Identität nutzte der austrofaschistische „Ständestaat" auch die Tracht, neben dem Dirndl insbesondere den von Erzherzog Johann popularisierten „Steireranzug", sowie die Volkskunde als neue „Wissenschaft vom Volk". Viktor Geramb war österreichweit wohl deren wichtigster Akteur. Katholisch und konservativ, zugleich deutschnational bis völkisch orientiert und vernetzt, propagierte er eine deutsche Identität und reaktionäre Heimatbilder durch Volksbildung, Trachtenpflege und „Heimatschutz"-Vereine wie den „Deutschen Schulverein Südmark". Im Museum ließ er die Essenz des Gestern von Künstlern seiner Zeit in neue Formen gießen - und die Figuren eine tragende Rolle spielen.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Zeitgemäße Verschiebungen
Der Trachtensaal verkörperte das Wunsch-bild einer homogenen „Volksgemeinschaft“: als ständisch organisierte, antimoderne und deutsch-steirische. Diese Idee einer „natürlich" gewachsenen einheitlichen Identität wurde nunmehr durch eine räumliche Intervention archiviert. Die Verschiebung und Verpackung der Vitrinen drängt die Inszenierung des imaginierten Eigenen zurück und schafft Raum für aktuelle Perspektiven auf den Trachtensaal und auf Tracht: an den Vitrinen, im Wandbild und im Video.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Trachten-Modelle
Im Gegensatz zu anderen Trachtendarstellungen, die anonym oder abstrakt blieben, entsprechen manche Gesichter im Grazer Trachtensaal realen Personen, die zum Teil auch genannt werden. Einige von ihnen gehörten zum Umfeld des Volkskundemuseums: Die Figur der Grundlseerin etwa steht in Beziehung zur Familie von Konrad und Anna Mautner, jene des Ausseers um 1870 zeigt einen der beiden damals weitbekannten und oft porträtierten Grundlseer Pfeiferlbuam, von Brotberuf Holzknecht und Salzarbeiter.

Der Alte Mann aus dem oberen Murtal war Geistlicher und verrichtete religiöse Dienste in der Grazer Antoniuskirche. Durch außerordentliche Aktivität zeichnete sich der Landbürger aus Weißkirchen bei Judenburg aus: Er war Wirtshausbesitzer, Brau- und Bürgermeister sowie Musikkapellengründer und so für die Entwicklung der Gemeinde von großer Bedeutung.

Bruchstückhaft informieren die Beschriftungen über die Lebenswelten, Tätigkeiten und sozialen Verhältnisse der Trachtenträger*innen. Doch selten gehörte die ausgestellte Kleidung tatsächlich der dargestellten Person. In ihrer äußeren Erscheinung verkörperten die Individuen für Geramb indes bis in die feinen Gesichtszüge der Grundlseerin hinein ländliche „Volkstypen" und das „sittliche Wesen" eines Kollektivs - jenes der steirischen Bevölkerung. Dass er dabei der Ober- und Weststeiermark eine höhere kulturelle Prägung als der Südoststeiermark zuschrieb, spiegelt auch der Fokus des Trachtensaals wider.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Spiel-Räume
Verändert wurde der Trachtensaal erst lange nach der Ära Viktor Gerambs in den 1980er-Jahren: Die Wissenschaftlerin des Hauses verschob Vitrinen, tauschte Kleidungsstücke, Körperteile und Figurinen und machte etwa aus dem Jäger um 1330 einen Bauern um 1970 - ganz im Sinne der verstärkten Hinwendung der Volkskunde zur Gegenwart. 2003 wurde die Inszenierung der 1940er-Jahre weitgehend wiederhergestellt und zum „Museum im Museum" erklärt, temporäre Interventionen folgten. Deponiert hat den Trachtensaal trotz seiner Verankerung zwischen Deutschnationalismus, Austrofaschismus und Nationalsozialismus noch niemand - doch 2022 wurden seine Inhalte verschoben, verpackt und neu eingeordnet.

Was kann der Raum heute vermitteln?
Der Trachtensaal sensibilisiert für die Konstruktion von Identitäten und Vorstellungen von „eigenen Wurzeln", die ein enges gesellschaftliches Korsett schnüren. Heute wie früher hat der Saal Bezüge zur Welt jenseits des Museums, denn: Dirndl und Lederhose in unterschiedlichen Spielarten liegen wieder im Trend. Tracht vermittelt Ordnung durch Lokalisierung in einer globalisierten Welt, sie dient der Weitertragung traditioneller Haltungen und fester Identitäten, zugleich zeigt sie gesellschaftliche Veränderungen an. Die Suche nach dem „Echten" wird durch ein Spiel mit Zitaten irritiert. Mode und Design verarbeiten die populäre Wirkung von Tracht weiter; individuelle Aneignungen spielen mit Gender- und Machtverhältnissen, Körper- und Kleidercodes, die sich einer eindeutigen geschlechtlichen, politischen oder regionalen Zuordnung entziehen. Wo würden Sie sich einordnen?

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Geschichte wird gemacht
Kleider machen Leute - im Trachtensaal aber auch Geschichte. Denn Geschichte ist immer ein gegenwärtiger Blick auf die Vergangenheit. Die Figurinen der älteren Zeit und ihre Kleidung entwickelte Viktor Geramb anhand historischer Bildquellen wie Buchmalereien in Handschriften aus dem Kloster St. Lambrecht, Kirchenfresken oder Bildern der Kammermaler Erzherzog Johanns. Viele Darstellungen hatte Konrad Mautner für das Steirische Trachtenbuch zusammengetragen, andere Vorlagen malten Künstlerinnen für ihn ab. Anhand dieser Kopien stellte Geramb die seiner Meinung nach typischen Kleider-Ensembles zusammen.

Melitta Maieritsch, Lehrerin, Weberin und Kunstgewerbe-Absolventin der Grazer Ortweinschule, organisierte die Stoffe und nähte die Kleidung nach Gerambs Vorgaben. Schuhe und Accessoires wurden bei Firmen, zumeist in Graz, in Auftrag gegeben. Ähnlich den Naturalienkabinetten des 19. Jahrhunderts wurden die Figurinen in Vitrinen positioniert und in den historischen Gewändern als verkörperte Wiederkehr der Vergangenheit inszeniert. In erster Linie sind die Figurinen jedoch das Ergebnis zeitgenössischer Wissenschaftspraktiken: des Sammelns, Auswählens, Fragmentierens, des Interpretierens und Neu-Herstellens, des Inszenierens, Erzählens und Vermittelns und nicht zuletzt: des Legitimierens.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Die Kirche Sankt Antonius von Padua
Diese Kirche ist beredte Zeugin der Religionskonflikte im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert. Hinter dem Glaubenskampf stand der Machtstreit zwischen den katholischen Habsburgern und den protestantischen Ständen. Der Landesherr Ferdinand II. (1578-1637) unterstützte als glühender Gegenreformator den vom Papst zur Rückdrängung der Protestanten eingesetzten Kapuziner Laurentius von Brindisi (1559-1619) und beauftragte ihn mit der Gründung eines Klosters in Graz. Die Grundsteinlegung der Kirche am 10. August 1600 soll in Zusammenhang mit der kurz zuvor stattgefundenen Verbrennung Tausender protestantischer Bücher in der Paulusvorstadt stehen.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Kirche und Kloster entsprechen mit ihrer zur Schau gestellten Schlichtheit und Bescheidenheit der strengen Bauordnung der Kapuziner. Seit seiner Gründung genoss der Bettelorden durch Seelsorge und Krankenpflege, zumal in Zeiten der Pest, große Popularität.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Dominant beherrscht das Altarbild des Hofmalers Giovanni Pietro de Pomis (um 1565-1633) den Kirchenraum. Das programmatische Gemälde zeigt Ferdinand im Harnisch am unteren rechten Bildrand. Es ruft, wie auf den Spruchbändern zu lesen ist, zum bewaffneten Kampf gegen Andersgläubige auf - unterstützt durch die Heiligen Leopold, Ulrich, Sebastian, Rochus, Hieronymus, zu erkennen an ihren Attributen. Rechts in der himmlischen Sphäre des Bildes kniet Antonius, dem die Kirche geweiht ist. Ganz oben schwebt der auferstandene Christus, dem die Heiligen Katharina und Johannes der Täufer die Stadt Graz zum Schutz darbieten.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Für die einen sind Apple-Produkte Kult. Für andere nur teure Fetische der Warenwelt. Gegründet 1976 in einer Garage in Los Altos (Kalifornien), hat Apple Geschichte geschrieben: Technik-, Industrie-, Design- und Kulturgeschichte. Mit dem Macintosh brachte Apple den ersten in größerer Stückzahl erzeugten PC mit grafischer Benutzer*innenoberfläche und Maus auf den Markt. Mit dem iPhone revolutionierte Apple 2007 die Mobiltelefonie. Und Anfang 2022 erreichte das Unternehmen den Börsenwert von drei Billionen US-Dollar...

Mit Ausnahme der grafischen Oberflächen haben Apple-Geräte heute nichts Buntes an sich: das Design reduktionistisch; das Logo dezent. Das war aber nicht immer so! Entworfen 1977 von Rob Janoff, war der angebissene Apfel regenbogenfarben! Sechs Farbstreifen: Grün oben, Blau unten. Um den Hintergrund des Logos ranken sich Legenden. Der Rede wert ist jene, wonach es sich um eine Hommage an das britische Kryptoanalyse- und Informatikgenie Alan Turning (1912-1954) handle: Turning lebte sein sexuelles Interesse an Männern aus, als dies im Vereinigten Königreich noch verboten war. 1952 wegen „sexueller Perversion" zu chemischer Kastration verurteilt, erkrankte Turning psychisch und starb an einer Cyanidvergiftung. Die Polizei stellte Suizid fest. Gefunden wurde ein angebissener Apfel ...

Seinen letzten Auftritt hatte der Regenbogenapfel in der „Think different"-Kampagne des Unternehmens, die 1997 anlief: Die in Schwarz-Weiß gehaltenen Motive zeigten Prominente aus Geschichte und Gegenwart. Man setzte die Botschaft >denke das Andere hinzu< und: den bunten Apfel.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

REGENBOGENSCHUTZWEG AM GRIESKAI
Gemäß Straßenverkehrsordnung ist ein „Schutzweg" ein „durch gleichmäßige Längsstreifen gekennzeichneter, für die Überquerung der Fahrbahn durch Fußgänger bestimmter Fahrbahnteil". Meist sind die Streifen weiß oder gelb und bilden mit der grauen Straßenoberfläche das Zebramuster. Seit einigen Jahren jedoch sind Zebrastreifen immer öfter regenbogenfarben. Den Anfang machte Wien, wo der Schutzweg seit 2019 auf Höhe von Burgtheater und Rathaus eine farbige Überquerung der Ringstraße ermöglicht. Und was Wien hat, will oft auch Graz haben, und Innsbruck, Linz und Villach auch...

Als „wichtiges Signal für mehr queere Sichtbarkeit in Graz" bezeichnete Gemeinderat Gerald Kuhn den Regenbogenschutzweg anlässlich seiner Fertigstellung im Sommer 2021. Und Elke Kahr - seinerzeit Verkehrsstadträtin, nunmehr Bürgermeisterin - postete auf Facebook ein Foto, das sie selbst, die Dragqueen Gloria Hole und lokalpolitische Prominenz zeigte.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

FARBENLEHRE FÜR FORTGESCHRITTENE
Soziolog*innen beschreiben unsere Gesellschaft als pluralistisch und individualisiert. Gewollt seien Selbstverwirklichung und Selbstexpression. Kulturwissenschafter*innen konstatieren eine wachsende Bedeutung von Identitätspolitik. Gemeint ist damit eine politische Praxis von marginalisierten Gruppen, die sich ihrer geteilten Erfahrungen bewusst werden, über geteilte Symbole - sprachliche und visuelle Codes - eine kollektive Identität herstellen und sich gegen Benachteiligungen wehren. Vor diesem Hintergrund vervielfältigen sich die Gruppen, entstehen neue Identitäten. Wenig überraschend, dass der Regenbogen wiederholt überarbeitet wurde und neben ihn immer weitere Signets mit je eigenen Bedeutungen treten. Das Poster der Beratungsstelle Courage* ist auf dem Stand von 2019.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022

Antoniuskirche
Ferdinand II. - seit 1595 Landesherr von Innerösterreich - war tief katholisch und ein kompromissloser Gegner der protestantischen Lehren. Zur Unterstützung bei der Bekämpfung der Protestant*innen rief er den Kapuziner Laurentius von Brindisi nach Graz. Die Grundsteinlegung für die Kirche erfolgte im Beisein des Habsburgers am 10. August 1600, am 6. Oktober 1602 wurde sie dem heiligen Antonius von Padua geweiht. Der Ort wurde angeblich gewählt, weil hier laut Klosterchronik zwei Tage davor 10.000 protestantische Bücher verbrannt wurden. Ob dies tatsächlich hier stattfand, konnte bislang nicht bestätigt werden. Das Volkskundemuseum nutzt die Antoniuskirche seit 1916 für die Aufführung der Hirten- und Krippenlieder. Seit 2021 ist sie barrierefrei an das Museum angebunden.

 Volkskundemuseum am Paulustor, Dezember 2022